Staatlich geförderter Patriotismus in Russland und Putins Einmarsch in die Ukraine
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Im Verlauf der mittlerweile 22 Jahre währenden Herrschaft des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist ein historisches Narrativ entstanden, das auf eklektische Weise verschiedene Perioden der russischen Geschichte miteinander verbindet, um die historische Größe Russlands zum Ausdruck zu bringen. Dieser Umgang mit der Geschichte dient dem russischen Staat dazu, das ideologische Vakuum zu füllen, das nach dem Zerfall der Sowjetunion entstand. Im Rahmen dieser Bemühungen ist die patriotische Erziehung der russischen Jugend eine der wichtigsten Prioritäten. Über die Jahre hinweg waren der Aufstieg und Niedergang patriotischer Pro-Putin-Jugendbewegungen und ein breiter Rückhalt für Putin unter jungen Menschen zu beobachten, aber auch offensichtliche Brüche zwischen der Generation, die noch in der Zeit der Sowjetunion, und derjenigen, die in der Ära Putins großgeworden ist.
Angesichts der Schockwellen, die der russische Einmarsch in der Ukraine ausgelöst hat, lohnt es sich, einen Blick auf die möglichen Auswirkungen patriotischer Politik und Erziehung auf junge Russ*innen zu werfen. Die staatliche Propaganda schwört die Menschen in Russland auf einen ideologischen Krieg gegen den Westen ein, in dem – in Putins Worten – alle, die Kritik äußern, Verrat an der Nation begehen. Welche Aussichten bestehen vor diesem Hintergrund für eine mögliche Mobilisierung der russischen Jugend?
Unverbindlicher Konformismus
Zu Zeiten der Sowjetunion bildeten die Ideale eines guten, staatsbürgerlichen Benehmens einerseits und die Bereitschaft zur Verteidigung der Heimat andererseits die zentralen Elemente des Patriotismus. Befreit von ihren Bezügen zur kommunistischen Ideologie wurden diese Elemente von den patriotischen Programmen der Ära Putins übernommen. Diese Programme stellen einen Versuch dar, die von Russland empfundenen Erniedrigungen der 1990er-Jahre zu überwinden und sich von den angeblichen Verfehlungen westlicher Werte zu befreien. Ohne aber auf eine wirkliche Tradition staatsbürgerlicher Erziehung zurückgreifen zu können, mussten die patriotischen Programme ein Gleichgewicht zwischen einem sogenannten sanften Patriotismus, der universale staatsbürgerliche Tugenden in den Mittelpunkt stellt, und der sowjetischen Tradition militärisch-patriotischer Erziehung finden. Seit die Spannungen mit dem Westen vor allem ab 2014 gestiegen sind, hat ein militärisch geprägter Patriotismus in der patriotischen Erziehung Russlands immer mehr an Bedeutung gewonnen.
Der staatlich geförderte Patriotismus muss in Russland als Bestandteil von Institutionen verstanden werden, die darauf ausgerichtet sind, im Rahmen politischer Machtmonopole für Gehorsam und Kooperation zu sorgen. Wie der Rest der Bevölkerung vertraut auch die russische Jugend den zentralen Institutionen des Staates, insbesondere dem Präsidenten und dem Militär. Außerdem halten viele junge Russ*innen Patriotismus für eine gute Sache und teilen weitestgehend die offiziellen historischen Narrative.
Auf den ersten Blick hat die patriotische Erziehung junger Menschen also ihr ideologisches Ziel erreicht und der staatlichen Politik breite Zustimmung gesichert. Junge Menschen sind allerdings gleichzeitig auch diejenige Altersgruppe, die dem herrschenden Regime in Russland am kritischsten gegenübersteht. Der weitverbreitete Konformismus ist nicht mit einer uneingeschränkten Loyalität gegenüber dem Regime gleichzusetzen. Das gilt besonders dann, wenn die patriotischen Prinzipien mit den individuellen Interessen der Menschen in Konflikt geraten, zum Beispiel dem Zugang zu sozialen Medien, Auslandsreisen oder der Meinungsfreiheit. Kurz gesagt nehmen die Russ*innen Patriotismus als eine Mischung aus apolitischem Konformismus und Individualismus wahr. Unter jungen Menschen zeigt sich dies am deutlichsten an ihren positiven Einstellungen gegenüber dem Westen oder an ihrer im Vergleich zum Rest der Bevölkerung kritischeren Haltung gegenüber den staatlichen Medien.
Patriotismus ohne Militarismus
Es ist schwer einzuschätzen, wie die Propaganda, die Einschüchterungen und die Unterdrückung von Kritiker*innen, die auf Putins Einmarsch in der Ukraine folgten, sich in Zukunft auf die Einstellungen der Bürger*innen auswirken werden. Die Zeit des sanften Patriotismus ist vorbei und Forderungen nach einem immer militanteren Patriotismus durchdringen das gesellschaftliche Leben. Klar ist jedoch, dass Putin vielen jungen Russ*innen durch den Abbruch der Beziehungen zum Westen ihre Zukunft genommen hat. Denn junge Menschen sind durch viele verschiedene Einflüsse besonders stark in den Westen integriert.
Putins Vision eines stabilen, vom Westen unabhängigen Russlands als Gegenmodell zur Demütigung der 1990er-Jahre stößt auch in älteren Altersgruppen auf keine Resonanz. Wie unsere Forschung zeigt, hat die patriotische Erziehung in der Zeit der Sowjetunion bei gebildeten, urbanen Russ*innen, die in den frühen 1980er-Jahren geboren wurden, kein Gefühl der politischen Verbundenheit mit den patriotischen Idealen der Ära Putins hinterlassen. Obwohl sie eine patriotische Sichtweise auf den russischen Staat teilen, waren die Befragten dem militärischen Patriotismus gegenüber ausgesprochen negativ eingestellt. In der öffentlichen Wahrnehmung des Patriotismus ist es vor allem die militärische Dimension, die kritisch gesehen wird, und dies vor allem bei Jüngeren.
Die russische Armee wird vor allem auf einer symbolischen Ebene respektiert, die Bereitschaft junger Männer zum Wehrdienst ist jedoch gering; wenn möglich versuchen die Menschen in Russland, ihn zu umgehen. Dass sich eine immer tiefere Apathie ausbreiten und manche Menschen sogar auswandern werden, wenn das Land zunehmend verarmt und von der Außenwelt abgeschnitten wird, ist wahrscheinlicher als eine umfassende Mobilisierung der Bevölkerung zugunsten der Invasion in der Ukraine.
Jussi Lassila ist Senior Research Fellow am Finnischen Institut für Internationale Angelegenheiten.