ZOiS Spotlight 23/2023

Staatliche Dominanz und Widerstand unter jungen Menschen in Aserbaidschan

Junge Aserbaidschaner*innen sollen die um Karabach/Arzach kreisende Staatsideologie reproduzieren. Eine winzige Minderheit widersetzt sich ihr und dem herrschenden Diskurs um gerechte Rache und Aserbaidschans Opferrolle. Wachsende staatliche Repression hat diese alternativen Jugenddiskurse fast verstummen lassen.

Einwohner*innen in Baku halten während einer Parade der aserbaidschanischen Armee am 08. November 2022 eine aserbaidschanische Flagge © IMAGO / Aziz Karimov

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Im Mittelpunkt der aserbaidschanischen Staatsideologie steht der Verlust Karabachs an Armenien im Ersten Karabachkrieg, der von 1988 bis 1994 stattfand. Bis zu 25.000 Menschen auf beiden Seiten verloren durch den Krieg ihr Leben, schätzungsweise 350.000 Armenier*innen und 750.000 Aserbaidschaner*innen wurden vertrieben und Aserbaidschan verlor etwa 15 Prozent seines Territoriums an armenische Streitkräfte.1 Die aserbaidschanische Staatsideologie stützt sich seither auf ein Narrativ, das sich durch eine einseitige Opferrolle Aserbaidschans und Feindschaft gegenüber dem armenischen Anderen auszeichnet. Dieses Narrativ ist zu einem festen Bestandteil der nationalen Identität Aserbaidschans geworden. Durch die Reproduktion dieser staatlichen Ideologie in Lehrbüchern und Museen verinnerlichten sie auch junge Aserbaidschaner*innen, die während des Krieges größtenteils noch nicht auf der Welt waren. Staatliche Maßnahmen wie die Jugendentwicklungsstrategie 2015-2025 zielen darauf ab, in den jungen Menschen des Landes Gefühle von Patriotismus und nationaler Zugehörigkeit zu wecken. In den Worten des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew:

Während meiner Amtszeit habe ich versucht sicherzustellen, dass mehr für die Bildung junger Menschen getan wird […]. Wir haben nämlich so eine Generation großgezogen, dass selbst junge Menschen, die Karabach nie gesehen und diese bittere Geschichte nicht erlebt haben, bereit waren, für Karabach, für das Mutterland, für die nationale Würde zu sterben, zu Märtyrern zu werden, verwundet zu werden, dafür aber den Ruhm unserer siegreichen Armee zu mehren.

Die Jugend als ein Spiegel hegemonialer Ideologie

Eine 2022 vom ZOiS durchgeführte Umfrage verdeutlicht, wie erfolgreich diese Jugendpolitik aus der Perspektive der Regierung ist, die Feindschaft gegenüber Armenier*innen aufrecht zu erhalten. Auf die Frage, in welchem Maße sie bereit wären, verschiedene Kategorien von Menschen zu akzeptieren, antwortete eine klare Mehrheit der Befragten in der Altersgruppe 16 bis 29 (mehr als 60 Prozent), dass sie einer Person aus Armenien nicht erlauben würden, ins Land einzureisen. Nur 25 Prozenten gaben indes an, dass sie Armenier*innen als enge Freund*innen akzeptieren würden. Darüber hinaus zeigt eine 2023 durch den unabhängigen aserbaidschanischen Think Tank Agora durchgeführte Umfrage, dass lediglich 19 Prozent der Aserbaidschaner*innen unter 35 Jahren an die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz von Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen in Karabach glauben. Diese Umfragen machen deutlich, in welchem Ausmaß die hegemoniale Staatsideologie von jungen Menschen in Aserbaidschan übernommen wurde. Wenig überraschend unterstützte die überwältigende Mehrheit der Aserbaidschaner*innen den Zweiten Karabachkrieg 2020. Eine Umfrage des Zentrums für Sozialforschung hat außerdem gezeigt, dass zumindest eine relative Mehrheit auch noch 2022 und 2023 weitere Militäroperationen unterstützte.

Widerstand und Repression                     

Nichtsdestotrotz brachte der Zweite Karabachkrieg im Herbst 2020, den Aserbaidschan begonnen hatte, um wieder die Kontrolle über Karabach zu gewinnen, vor allem unter jungen Aserbaidschaner*innen bislang unbekannte Kriegsgegnerschaft zum Vorschein. Zum Beispiel veröffentlichte die Linke Aserbaidschanische Jugend (Azerbaijani Leftist Youth), ein loser Zusammenschluss von 17 Einzelpersonen, am dritten Tag des Krieges eine Stellungnahme gegen den Krieg, in der dazu aufgerufen wurde, die militärischen und politischen Feindseligkeiten unmittelbar einzustellen. In einer markanten Passage heißt es:  

Es ist lange überfällig, dass wir, die aserbaidschanische und armenische Jugend, es in unsere eigenen Hände nehmen, diesen überholten Konflikt beizulegen. Es sollte nicht mehr das Vorrecht von Männern in Anzügen sein, deren Ziel die Akkumulation von Kapital […] und nicht die Lösung des Konflikts ist. Wir sollten diesen hässlichen Mantel des Nationalstaats ablegen, der auf den Müllhaufen der Geschichte gehört, und uns neue Wege einer gemeinsamen und friedlichen Koexistenz überlegen und sie in die Tat umsetzen.

Allerdings zog diese winzige Minderheit an Kriegsgegner*innen den Zorn der aserbaidschanischen Öffentlichkeit auf sich, die hauptsächlich damit reagierte, sie online zu belästigen, zu bedrohen und an den Pranger zu stellen. Die Aktivist*innen wurden als „Vaterlandsverräter*innen“ (vətən xainlər), „Armenier*innen“ (ermənilər) und „Armenienverehrer*innen“ (ermənipərəstlər) bezeichnet. Einige von ihnen wurden zudem vom aserbaidschanischen Geheimdienst (Dövlət Təhlükəsizlik Xidməti, DTX) kontaktiert und aufgefordert, ihre Posts gegen den Krieg aus den sozialen Medien zu entfernen. Wie ein von uns interviewter Antikriegsaktivist berichtete:

Der DTX rief mich an und sie sagten mir, ich solle in ihr Büro kommen, ohne dass sie mir den Grund dafür nannten […]. Ich hatte Angst und ging mit meinem Anwalt zu ihnen […]. Sie hatten einen Haufen Screenshots von meinen [Antikriegs]posts auf Facebook […]. Sie fragten mich, ob ich ein „armenischer Verräter“ sei […], und sagten mir, dass ich aufhören solle, Posts über den Krieg zu verfassen. Dass sie mich beobachten würden.

Nach weniger als zwei Monaten der Kämpfe wurde am 10. November 2020 eine von der Russischen Föderation vermittelte Waffenstillstandsvereinbarung unterzeichnet. Neben dem Verlust von 7.000 Menschenleben führte der Zweite Karabachkrieg zur Vertreibung tausender Armenier*innen, hauptsächlich aus der Provinz Hadrut in Bergkarabach, und ermöglichte Aserbaidschan, einen Großteil Karabachs zurückzuerobern. Viele derjenigen, die sich gegen den Krieg ausgesprochen hatten, riefen auch danach weiter zum Frieden auf, während andere stiller wurden und ihren politischen Aktivismus komplett aufgaben. Besonders bemerkenswert waren die Gründung des Feminist Peace Collective und der Aktivismus der Demokratie 1918-Bewegung (D18). Während der Blockade des Latschinkorridors (der einzigen Straße, die Bergkarabach mit der Republik Armenien verbindet) rief das Feminist Peace Collective zur radikalen Solidarität mit den Armenier*innen in Bergkarabach auf. Der Vorsitzende von D18, Ahmad Mammadli, kritisierte in den sozialen Medien offen Aserbaidschans Präsidenten Ilham Alijew und dessen kriegstreiberische Politik.

Einen endgültigen Schlag erlitten die jungen Kriegsgegner*innen im Sommer 2023. Nachdem einige ihrer Mitglieder und Unterstützer*innen verhaftet wurden, kündigte die D18-Bewegung an, ihre Tätigkeiten einzustellen, da Aktivismus im gegenwärtigen politischen Klima Aserbaidschans „sinnlos“ sei und junge Student*innen mittlerweile Angst hätten, sich der Bewegung anzuschließen, da sie befürchteten, verhaftet zu werden. Auch das Feminist Peace Collective ist ins Schussfeld regierungstreuer Medien geraten, die der Bewegung vorwerfen, mit ihren Aufrufen zum Frieden „Armeniens Interessen zu dienen“.

Diese Repressionswelle setzte unmittelbar vor dem 19. September ein, dem Tag, an dem Aserbaidschan einen eintägigen Krieg begann, der zur Vertreibung nahezu der gesamten armenischen Bevölkerung von Bergkarabach führte. Verglichen mit dem Zweiten Karabachkrieg 2020 ging die Regierung nun schneller und härter gegen Gegner*innen ihrer hegemonialen Ideologie vor. Aus Angst und einer allgemeinen, zumindest vorübergehenden Hoffnungslosigkeit – beides Emotionen, die in unseren Interviews mit Aktivist*innen geäußert wurden – fielen die Reaktionen junger Kriegsgegner*innen in Aserbaidschan auf den eintägigen Krieg 2023 verhaltener aus. Abgesehen von einigen wenigen kritischen Stimmen stellt das Feminist Peace Collective eine der wenigen Bewegungen in Aserbaidschan dar, die immer noch offen für Frieden eintritt und alternative Diskurse zur Sprache bringt. Im Augenblick scheint die staatliche Ideologie stärker als je zuvor und Opposition gegen sie an einem Tiefpunkt angelangt zu sein.

1 Thomas De Waal (2003). Black Garden: Armenia and Azerbaijan through Peace and War. New York: New York University Press, S. 285.

 

Die Autor*innen möchten sich bei Varvara Ilyna für Ihre Assistenz beim Anfertigen der Umfragegrafik bedanken.

 


Veronika Pfeilschifter ist assoziierte Mitarbeiterin im Forschungscluster „Jugend und generationeller Wandel“ des ZOiS und Doktorandin am Institut für Kaukasiologie in Jena. Für ihre Dissertation untersucht sie linke Ideologien und Konzepte (Gerechtigkeit, Solidarität, Hoffnung) unter jungen Erwachsenen und Jugendlichen in Armenien, Aserbaidschan und Georgien.

Cesare Figari Barberis ist Doktorand am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf und Fellow im Projekt Civil War Paths. Im Mittelpunkt seiner Doktorarbeit stehen konfliktbezogene Traumata, Emotionen und Ideologie in Georgien und Aserbaidschan.