ZOiS Spotlight 2/2025

Studierendenproteste in Serbien: Vučićs Macht in Gefahr?

Von Ivaylo Dinev 29.01.2025

Serbien wird seit Monaten von Protesten erschüttert. Was als einzelne Demonstration begann, die die Verantwortlichen für den Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad zur Rechenschaft ziehen wollte, hat sich schnell zu einer Massenbewegung entwickelt. Präsident Vučić steht vor seiner bisher schwersten Prüfung.

Studierende in Belgrad fordern Rechenschaftspflicht, nachdem am 1. November 2024 beim Einsturz des Bahnhofsvordachs von Novi Sad 15 Menschen ums Leben kamen. IMAGO / Aleksandar Djorovic

Ende 2024 lösten Studierende in Serbien eine Protestwelle aus, die zur Besetzung von Universitätsgebäuden, zur Blockade von Schulen und zu Demonstrationen im ganzen Land führte. Auslöser dieser Massenmobilisierung war der tragische Einsturz einer Bahnhofsüberdachung aus Beton in Novi Sad am 1. November, bei dem 15 Menschen ums Leben kamen. Die Katastrophe schockierte das Land und schürte die Forderung, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Bahnhof war erst kürzlich im Rahmen einer von China geleiteten Modernisierung der serbischen Eisenbahninfrastruktur renoviert worden.

Eine Protestwelle entsteht

Am 22. November versammelten sich Studierende und Professor*innen der Fakultät für Darstellende Kunst der Universität Belgrad, um der Opfer von Novi Sad zu gedenken. Die Veranstaltung nahm eine gewaltsame Wendung, als eine organisierte Gruppe, der mutmaßlich hochrangige Mitglieder der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) angehörten, die Teilnehmenden angriff. Als Reaktion darauf besetzten die Studierenden am 25. November die Fakultät, ein Protest, der sich schnell auf andere Fakultäten und Universitäten in ganz Serbien ausbreitete. Die Studierenden fordern, dass alle Unterlagen im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau des Bahnhofs von Novi Sad veröffentlicht, inhaftierte Demonstrant*innen freigelassen, die gegen sie erhobenen Anklagen eingestellt und die Mittel für staatliche Universitäten um 20 Prozent erhöht werden. Während die Tragödie von Novi Sad zu Beginn im Mittelpunkt stand, sind die Proteste inzwischen auch zu einem Mittel geworden, um Unmut über Themen wie mutmaßlichen Wahlbetrug und der Wiederaufnahme eines großen Lithium-Bergbauprojekts auszudrücken. Sie sind somit die jüngsten in einer Reihe von Protestwellen in Serbien seit 2016.

Das Ausmaß und die Intensität dieser Bewegung sind jedoch beispiellos in der jüngeren Geschichte Serbiens – und in der gesamten Geschichte studentischer Bewegungen in Europa. Die Studierenden erhielten breite Unterstützung in der akademischen Welt und darüber hinaus. Rund 5.000 Universitätsprofessor*innen unterzeichneten einen Online-Brief der Solidarität, und bis Ende Dezember 2024 hatten sich 85 Fakultäten – 74 Prozent aller Fakultäten im Land – den Protesten angeschlossen. Landwirte blockierten im Dezember die wichtigste Autobahn Serbiens, und auch Künstler*innen, Schüler*innen, Lehrpersonal, Anwält*innen und Angehörige von Bildungsgewerkschaften und Medienverbänden brachten ihre Unterstützung zum Ausdruck, wobei 73 Schulen aus Solidarität mit den Studierenden den Unterricht aussetzten. Im Rahmen der Kampagne „Zastani, Srbijo“ („Stopp, Serbien“) gingen Menschen in 58 Städten und Gemeinden im ganzen Land auf die Straße und gedachten 15 Minuten lang schweigend der Opfer von Novi Sad. Am 22. Dezember versammelten sich dann etwa 100.000 Menschen auf dem Slavija-Platz in Belgrad zur größten Protestkundgebung in Serbien seit zwanzig Jahren. Studierende, denen sich Landwirte, Gewerkschaften und Oppositionsgruppen anschlossen, trugen Transparente mit Botschaften wie „Eure Hände sind blutig“, „Studierende schweigen nicht“ und „Korruption tötet“.

Es gibt im Moment keine Anzeichen dafür, dass die Proteste nachlassen werden. Bei der letzten Erhebung betrug die Zahl der Städte und Gemeinden, in denen Demonstrationen stattgefunden haben, 151. Am 24. Januar riefen die Studierenden zu einem Generalstreik auf, der zu landesweiten Protesten und der Aussetzung des Unterrichts an 68 bzw. 48 Prozent der Sekundar- und Grundschulen des Landes führte. Hinzu kam eine Welle der Unterstützung aus der serbischen Diaspora und von Prominenten, darunter von Tennisstar Novak Djokovic, der bei den Australian Open seine Solidarität mit den Demonstrierenden zum Ausdruck brachte.

Breiter Rückhalt durch basisdemokratischen Ansatz

Die Studierendenbewegung geht partizipativ vor, ohne zentralisierte Führung und parteipolitischen Einfluss. In den besetzten Universitäten halten die Studierenden Vollversammlungen ab, bei denen alle Teilnehmenden wählen können. Diese basisdemokratische Strategie hat der Bewegung Glaubwürdigkeit und Authentizität verliehen und maßgeblich dazu beigetragen, dass sie sich in ganz Serbien ausgebreitet hat. Eine Umfrage des Centre for Research, Responsibility, and Transparency (CRRT) Ende Dezember 2024 offenbart das Ausmaß der öffentlichen Unterstützung für die Bewegung: 61 Prozent der Bürger*innen befürworten die Proteste, und 58 Prozent glauben, dass die Studierenden sich aufrichtig wünschen, dass die Verantwortlichen der Tragödie von Novi Sad zur Rechenschaft gezogen werden. Nur 33 Prozent betrachten die Proteste als Teil einer Verschwörung „interner und externer Feinde“, um Serbien zu destabilisieren. Die Umfrage ergab auch eine weit verbreitete Ernüchterung gegenüber dem serbischen Staatsoberhaupt: 52 Prozent der Befragten gaben an, dass sie bei einem Referendum gegen Präsident Aleksandar Vučić stimmen würden, während nur 34 Prozent Vertrauen in ihn äußerten.

Staatliche Reaktion mit Zuckerbrot und Peitsche

Anfangs tat die Regierung die Proteste ab. Als sie sich jedoch zu einer Massenmobilisierung entwickelten, begannen Amtsträger*innen, darunter auch Präsident Vučić, auf die Forderungen der Studierenden einzugehen. Am 13. Dezember kündigte die Regierung an, Dokumente im Zusammenhang mit der Katastrophe von Novi Sad zu veröffentlichen. In der Zwischenzeit versuchte Vučić, die Studierenden zu beschwichtigen, indem er versprach, die Mittel für Hochschulen um 20 Prozent im Jahr 2025 zu erhöhen. Diese Woche trat Ministerpräsident Miloš Vučević zurück und Vučić kündigte an, dass er die Hälfte seines Kabinetts ersetzen und von der Staatsanwaltschaft angeklagte Schüler*innen und Lehrer*innen begnadigen werde. Damit meinte er, alle Forderungen erfüllt zu haben und rief zum Ende der Proteste auf.

Gleichzeitig sind die streikenden Studierenden von den Behörden zunehmendem Druck ausgesetzt. Vučić behauptete, dass die Bewegung von westlichen Interessen finanziert und von Studierenden aus Kroatien unterstützt werde, die im Auftrag des kroatischen Geheimdienstes arbeiten. Die Präsidentin der Nationalversammlung, Ana Brnabić, drohte außerdem, dass mehr als 100.000 Studierende ihre staatlichen Studienbeihilfen verlieren würden, wenn sie weiter protestieren. Regierungsnahe Medien veröffentlichten persönliche Informationen über einige Teilnehmende und Organisator*innen der Demonstrationen und einige von ihnen erhielten Telefonanrufe vom serbischen Sicherheitsdienst. Die Proteste waren auch Gegenstand gewalttätiger Angriffe von Provokateuren, die der regierenden Partei nahestehen sollen.

Starke regionale Geschichte studentischer Proteste

Studentischer Aktivismus war auf dem Balkan oft ein Katalysator für politischen Wandel. In den 1990er- und 2000er-Jahren spielten Studierende eine entscheidende Rolle bei regierungskritischen Protestwellen. In jüngerer Zeit hat ihr Aktivismus gegen die Kommerzialisierung der Bildung zu Fakultätsbesetzungen und Straßenprotesten in Serbien, Kroatien und Nordmazedonien geführt. Die aktuellen Proteste in Serbien erinnern an eine Zeit des studentischen Aktivismus in Bulgarien im Herbst 2013, als Studierende einer Anti-Mafia-Bewegung neuen Schwung verliehen und die internationale Aufmerksamkeit auf das Problem der Korruption in der bulgarischen Politik lenkten. Alle diese Bewegungen stützten sich auf ähnliche Strategien, darunter Universitätsbesetzungen, offene Generalversammlungen und Straßenproteste.

Entscheidende nächste Wochen

Als aktuell größte studentische Bewegung in Europa haben die Proteste in Serbien enorme symbolische, diskursive und strategische Kraft. Ausgelöst durch die öffentliche Empörung über einen tragischen Konstruktionsfehler sind sie so weit gewachsen, dass sie nun eine große Herausforderung für die Macht von Alexander Vučić darstellen.

Die Studierenden senden die starke Botschaft an die serbische Gesellschaft, dass die jüngere Generation entschlossen ist, einen Systemwandel herbeizuführen und ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Im weiteren Verlauf der Bewegung werden die Studierenden und ihre Verbündeten wichtige Entscheidungen darüber treffen müssen, wie sie die Dynamik aufrechterhalten und konkrete institutionelle Ergebnisse erreichen können. Für ihren Erfolg wird es entscheidend sein, ihre Autonomie mit der Notwendigkeit in Einklang zu bringen, breite Koalitionen gegen Korruption und staatliche Vereinnahmung zu bilden. Die Studierenden Serbiens entwickeln sich zu einer treibenden Kraft für den gesellschaftlichen Wandel. Sie bieten nicht nur Hoffnung für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft eines Landes, das mit demografischem Rückgang und politischer Stagnation zu kämpfen hat.


Dr. Ivaylo Dinev ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS, wo er das multimethodische Datenlabor des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten KonKoop-Forschungsnetzwerks koordiniert.