ZOiS Spotlight 8/2023

Ukrainische Aktivist*innen in Deutschland: trotz alltäglicher Herausforderungen positiv gestimmt

Von Kostiantyn Fedorenko 19.04.2023

Bereits in Deutschland lebende Ukrainer*innen genau wie Geflüchtete engagieren sich als Folge des russischen Angriffskriegs verstärkt aktivistisch. Individuelle Interviews mit Personen beider Gruppen geben Einblick in ihre Erfahrungen – was sie motiviert, herausfordert und zufrieden macht. 

Demonstration gegen Russlands Krieg in der Ukraine in Berlin © IMAGO / Frank Ossenbrink

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat zu einem Anstieg des sozialen Aktivismus unter Ukrainer*innen im In- und Ausland geführt. Dabei spielt eine nicht unwesentliche Rolle, wie ukrainische Aktivist*innen im Ausland leben: Wie fühlen sie sich in ihrem neuen Land? Mit welchen Herausforderungen sind sie konfrontiert? Und warum sind sie überhaupt ausgewandert? Interviews mit ukrainischen Aktivist*innen, die in Deutschland leben, geben Einblicke in diese Fragen. Von den insgesamt acht Befragten sind drei aufgrund des Kriegs aus der Ukraine geflüchtet, die anderen fünf kamen bereits früher aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nach Deutschland.

Die Interviewten beteiligten sich an verschiedenen Formen des Aktivismus: Sie unterstützten Geflüchtete aus der Ukraine, besuchten Demonstrationen, organisierten Veranstaltungen, versuchten Bewusstsein für den Krieg zu schaffen, schickten Spenden und betrieben Fundraising. Eine der Befragten, die sich besonders stark in der Flüchtlingshilfe engagierte, fand schließlich Anstellung bei der kommunalen Verwaltung, betrachtete ihren Job jedoch als eine Form des Aktivismus und hätte ihn nach eigener Aussage wieder gekündigt, wenn er nicht einem sozialen Zweck dienen würde.

Entscheidung für Deutschland

Die Gründe der Aktivist*innen, sich für ihr Zielland entschieden zu haben, waren ganz unterschiedlicher Natur. Eine der Geflüchteten, eine Familientherapeutin, wurde von Kolleg*innen in Deutschland eingeladen. Die anderen beiden hatten sich vorher in Polen aufgehalten, entschieden sich jedoch zum Umzug nach Deutschland, weil sie dort Sozialleistungen erwarteten, die längerfristig sind und ihre Lebenshaltungskosten decken. 

Die Interviewten, die nicht als Geflüchtete kamen, sind vor allem aus beruflichen Gründen – zwei von ihnen hatten Geschäftspartner*innen, die ihnen eine Stelle angeboten hatten – oder zum Studium nach Deutschland gezogen. Eine von ihnen, die mittlerweile als wissenschaftliche Mitarbeiterin für ein Mitglied des Deutschen Bundestages arbeitet, begründete ihre Entscheidung mit der deutschen Mentalität, die sie als eine Mentalität „des Anstands und der Verantwortung“ beschrieb; Deutschland agiere „als eine Art von Vermittler“. Als weiteren Grund nannte sie die wirtschaftliche Stabilität des Landes.

Erfahrungen migrantischer Aktivist*innen

Nur eine Befragte berichtete davon, im Zusammenhang mit ihrem Aktivismus diskriminiert worden zu sein. Ihr Nachbar entfernte ein Antikriegsschild, das sie in ihrem Treppenhaus angebracht hatte. Eine der geflüchteten Interviewten berichtete von Diskriminierungserfahrungen in einer Kleinstadt, jedoch nicht im Kontext ihres Aktivismus, sondern weil sie kein Deutsch sprach. Obwohl es nicht zu einer unmittelbaren Auseinandersetzung kam, hatte sie das Gefühl, anders behandelt zu werden als die Einheimischen, vor allem wenn sie mit ihrem Kind Ukrainisch sprach. Eine andere Befragte hatte einen Soloprotest gegen eine prorussische Demonstration abgehalten und war dort den verbalen Attacken der Demonstrationsteilnehmenden ausgesetzt, meinte aber auch, dass sie sich von den anwesenden Polizist*innen beschützt gefühlt habe.

Mehrere Interviewte sprachen davon, dass man sich an eine andere Mentalität gewöhnen und neue Kontakte knüpfen müsse, beschwerten sich jedoch nicht darüber. Eine Befragte, die für eine NGO mit Krimbezug arbeitet, betrachtete diese Unterschiede als eine Gelegenheit, „als Vermittlerin oder eine Art von Übersetzerin zwischen der ukrainischen und der deutschen Seite tätig zu sein“.

Auch wenn Zusatzfragen gestellt wurden, um zu klären, ob die Befragten als Ausländer*innen in Deutschland positive oder negative Erfahrungen gemacht hatten, erwähnten sie eher positive Aspekte oder gar nichts. Alle der Geflüchteten brachten ihre Dankbarkeit gegenüber Deutschland für die Hilfe, die sie erhalten hatten, zum Ausdruck. Eine von ihnen kritisierte Menschen, die von Deutschland Unterstützung erhalten und sich dann beschweren. Interessanterweise kritisierten drei der Aktivist*innen, die selbst nicht als Geflüchtete gekommen sind, auch Ukrainer*innen, die nach Deutschland fliehen und dort ihrem Privatleben nachgehen, ohne sich um die Ukraine zu kümmern.

Gefühl der Zufriedenheit

Generell lässt sich feststellen, dass die freiwillig nach Deutschland gekommenen Migrant*innen mit ihrem Leben dort sehr zufrieden waren. Die Aussage einer nicht geflüchteten Befragten, abgesehen vom Krieg, der in der Ukraine herrscht, mit ihrem Leben zufrieden zu sein, ähnelte interessanterweise stark der Aussage einer der Geflüchteten. Dass auch Letztere so zufrieden war, mag daran liegen, dass sie in ihrem eigenen Berufsfeld Arbeit gefunden hat.

Als eine Befragte erklärte, warum sie in Deutschland glücklich sei, stellte sie ihrem Leben dort eine Mentalität gegenüber, die sie als typisch ukrainisch betrachtete: „Ukrainer*innen sind [Korruption und keine Steuern zu zahlen] gewöhnt; ich nicht. [Ich habe] sehr andere Ansichten.“

Doch es gab auch andere Erfahrungen. Eine der Geflüchteten war mit ihrem Leben in Deutschland deutlich unzufriedener. Sie fühlte sich in ihrer Stadt fremd und berichtete von Unterschieden zwischen der deutschen Mentalität und ihrer eigenen. Außerdem fühlte sie sich unwohl, nicht zuhause zu sein und von Sozialleistungen zu leben. Trotzdem war sie Deutschland für die soziale Unterstützung sehr dankbar und war der Meinung, dass das Land „ukrainische Kinder rettet“.

Sprachbarriere

Obwohl die meisten von ihnen in kosmopolitischen Städten leben, berichteten fast alle Interviewpartner*innen von Problemen mit der Sprachbarriere. „Für mich war es eine Offenbarung, wie wichtig die Sprache für Deutschland ist, und [wie wichtig es ist,] dass du ihre Werte teilst, in ihr Ökosystem passt“, so die NGO-Mitarbeiterin. „Ich hätte nicht gedacht, dass sie in Deutschland so sehr versuchen würden, dich ‚einzudeutschen‘.“ Eine andere Befragte meinte: „Ich habe das Gefühl, dass diese Gesellschaft recht verschlossen ist“ – und das, obwohl sie in Berlin lebt. Eine weitere Befragte, die ebenfalls in Berlin lebt, stimmte zu: „Als ich hierhergezogen bin, dachte ich, dass ich [auf Deutsch] kommunizieren könnte – aber nein, ich habe nichts verstanden und wurde auch nicht verstanden.“

Allerdings gab es auch andere Ansichten zum Thema Sprache. Manche Interviewpartner*innen bezeichneten es als eine Herausforderung, die sie gemeistert hätten. Für die Familientherapeutin war die Sprachbarriere auch ein berufliches Problem, da sie im Rahmen ihrer Arbeit ukrainische Geflüchtete an deutsche psychosoziale Fachkräfte vermittelt und es eine Verständigungshürde darstellt, dabei auf Übersetzer*innen angewiesen zu sein.

Bei zwei weiteren Geflüchteten lösten die Sprachprobleme negative Gefühle aus. „Wenn ich auf eine Sprachbarriere treffe […]“, erzählte eine von ihnen, „werde ich traurig und verliere für eine Weile jegliche Lust, irgendetwas zu tun. […] Den ganzen Tag kann ich keine Energie mehr aufbringen, [irgendeine Aufgabe] zu erledigen.“

Auch die Bürokratie versetzte anfänglichen Erwartungen einen Dämpfer. Eine der Befragten, die selbst nicht geflohen ist, holte nach Beginn des umfassenden Krieges gegen die Ukraine ihre Mutter nach Deutschland. Für diese war die Bürokratie jedoch einer der Hauptgründe, Deutschland wieder zu verlassen und in die Ukraine zurückzukehren, auch wenn die Befragte selbst diese Entscheidung nicht guthieß.

Insgesamt gab jedoch keine*r der acht Befragten an, von der Erfahrung ihres Lebens in Deutschland enttäuscht zu sein. Alle erwähnten mehrere positive Aspekte, die von grundlegender Bedeutung waren; unter den Befragten, die nicht als Geflüchtete nach Deutschland gekommen waren, gab es eine allgemeine Stimmung, anfängliche Schwierigkeiten überwunden zu haben und nun positiv auf die eigene Situation zu blicken. Es scheint so, als würden sie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit in Deutschland bleiben. Von den Geflüchteten wird womöglich eine der Befragten aufgrund der Qualität der Bildung, die ihr neurodivergenter Sohn in Deutschland erhält, bleiben.

Es ist jedoch schwer einzuschätzen, ob die Befragten ihren Aktivismus weiter fortsetzen werden. Einige von ihnen scheinen sich generell mit ukrainebezogenen Themen zu beschäftigen, weshalb sie mit einer höheren Wahrscheinlichkeit weitermachen werden. Andere haben sich erst aufgrund der umfassenden Invasion der Ukraine vermehrt an Aktivismus beteiligt und werden möglicherweise wieder damit aufhören, wenn sie endet.


Die Studie wurde mit Unterstützung der Stiftung Genshagen im Rahmen des Projekts „EU Meets Europe“ durchgeführt.

Kostiantyn Fedorenko ist Sozialwissenschaftler, Doktorand an der Berlin Graduate School of Social Sciences der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht am ZOiS.