ZOiS Spotlight 11/2024

Ungarische Diplomatie: eine Herausforderung anerkannter Normen

Von Ákos Kopper 29.05.2024

Unter Viktor Orbán strapaziert Ungarn die Regeln der Diplomatie bis an ihre Grenzen und isoliert sich dabei von seinen Verbündeten in der Europäischen Union und der NATO. Drei Beispiele illustrieren die antidemokratischen Tendenzen in der ungarischen Diplomatie im Vorfeld der Europawahlen.

Die Außenminister von Belarus, Ungarn und Russland bei einer Konferenz in Minsk. IMAGO / SNA

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Für Beobachter*innen illiberaler populistischer Regime ist es manchmal schwer zu sagen, wie genau sie gegen demokratische Grundsätze verstoßen. Wie Kritiker*innen Ungarns herausgestellt haben, sieht das Land zwar in vielen Hinsichten wie eine Demokratie aus, weist jedoch Praktiken auf, die demokratischen Normen fundamental widersprechen. Das Verhalten der ungarischen Regierung auf dem diplomatischen Parkett entspricht nicht dem, was die Verbündeten der NATO und der EU normalerweise voneinander gewöhnt sind. Die einzelnen Beispiele dieses Verhaltens könnten als schlechtes Timing, Fauxpas oder eine etwas eigenwillige diplomatische Einstellung betrachtet werden. Im Gesamten sind sie jedoch weitaus besorgniserregender.

Ausstellung von Pässen für Diplomat*innen

Allein in den letzten fünf Jahren hat die ungarische Regierung über 10.000 Diplomatenpässe ausgestellt. Diese Art von Pässen ist normalerweise Personen vorbehalten, die ihr Land bei offiziellen Anlässen im Ausland vertreten: Diplomat*innen, Konsul*innen und hochrangigen Beamt*innen. In Ungarns Fall wurden sie allerdings auch der Regierung nahestehenden Personen, einschließlich Regierungsbeamten, Geschäftsleuten und Sportler*innen angeboten. Dieses Problem macht sich für gewöhnlich erst dann bemerkbar, wenn die Inhaber*innen solcher Pässe einer Straftat beschuldigt werden oder die USA ihre Einreiseanträge ablehnen, weil sie nicht in offizieller diplomatischer Mission unterwegs sind. Obwohl Diplomatenpässe grundsätzlich nur dann Immunität verleihen, wenn die Person als Diplomat*in akkreditiert wurde, machen sie das Reisen dennoch einfacher. Und da gewöhnliche Beamt*innen unsicher sind, wie sie mit ihnen umgehen sollen, helfen sie ihren Inhaber*innen häufig dabei, sich den Konsequenzen zum Beispiel von Verkehrsdelikten zu entziehen. Staaten verfügen zwar über die Freiheit, Diplomatenpässe nach eigenem Ermessen auszustellen, in dieser Hinsicht allzu großzügig zu sein, läuft jedoch dem eigentlichen Zweck dieser Pässe zuwider.

Schutz für gestürzte autokratische Staatschefs

Illiberale Autokraten schließen oft Freundschaft untereinander und das Regime des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ist gerne bereit, seinen Verbündeten in Not zu helfen. 2018 konnte sich der ehemalige mazedonische Premierminister der Strafverfolgung in seinem Heimatland entziehen, indem diplomatische Vertreter*innen Ungarns ihm dabei halfen, ohne ordnungsgemäße Ausweispapiere internationale Grenzen zu überqueren (sein Pass war zuvor von den mazedonischen Behörden beschlagnahmt worden). Erst vor kurzem verbrachte Brasiliens ehemaliger Präsident Jair Bolsonaro zwei Tage in der ungarischen Botschaft in Brasilia, nachdem zwei enge Mitarbeiter von ihm verhaftet worden waren. Ihnen wurde vorgeworfen, einen Staatsstreich gegen die gewählte Regierung geplant zu haben.

Der Grundsatz, Menschen, die aus politischen Gründen strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sind, Zuflucht zu gewähren, ist international anerkannt und auch das Recht auf Botschaftsasyl wird in Lateinamerika anerkannt. Trotzdem sind diese Entscheidungen der ungarischen Regierung aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen stellen sie eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten dar, etwas, wogegen sich Ungarn in seinem eigenen Fall vehement wehrt, wie die kürzliche Gründung eines kontroversen Amts für Souveränitätsschutz zeigt. Zum anderen besitzt es eine hohe symbolische Bedeutung, wem Schutz geboten wird. Ein Beispiel ist etwa die Entscheidung Orbáns im April dieses Jahres, einen Orden vom Präsidenten der Republika Srpska Milorad Dodik anzunehmen, den nur ein Jahr zuvor der russische Präsident Wladimir Putin verliehen bekommen hatte. In der Diplomatie spielen solche symbolischen Handlungen eine entscheidende Rolle, indem sie signalisieren, worauf ein Staat Wert legt und wo er steht.

Affronts gegenüber Verbündeten

Häufig stellen Ungarns diplomatische Manöver kalkulierte Versuche dar, zu provozieren und öffentlich aus den Reihen der westlichen Verbündeten auszuscheren. Dafür gibt es unzählige Beispiele: dass der ungarische Außenminister am selben Tag, an dem der im Gefängnis verstorbene russische Oppositionelle Alexej Nawalny beerdigt wurde, mit seinem russischen Amtskollegen Lawrow posierte; dass die ungarische Regierungspartei Fidesz eine Anfrage von US-Senator*innen für ein gemeinsames Treffen in Budapest ungefähr zur selben Zeit ablehnte, als die Regierung mit einer chinesischen Delegation über eine Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich verhandelte; oder dass Budapest sich weigerte, das Beitrittsgesuch Schwedens zur NATO zu ratifizieren. Für letzteres hat Ungarn nie eine wirkliche Erklärung geliefert, weshalb der Verdacht naheliegt, dass die Regierung darin ein Druckmittel in den Rechtsstaatsdebatten mit der EU um Fördermittel sah oder einheimische Unterstützer*innen und Russland umwerben wollte. Kleine Staaten versuchen häufig sich abzusichern, um sich in einer von großen Staaten dominierten Welt Spielraum zu verschaffen. In Krisenzeiten sollte diese Strategie jedoch mit äußerster Vorsicht eingesetzt werden.

Was ist Diplomatie?

Über die letzten 14 Jahre hinweg bestand die Strategie der ungarischen Regierung darin, sich auf der Grenze dessen zu bewegen, was für Ungarns westliche Partner*innen gerade noch akzeptabel ist. Orbán ist nicht vor Konfrontationen zurückgeschreckt – wahrscheinlich genießt er sie sogar, hat dabei aber immer darauf geachtet, rechtzeitig die Bremse zu ziehen, wenn die Situation kritisch wurde.

Es wurde auf vielfache Weise versucht, das Wesen der Diplomatie zu bestimmen. Einige betrachten sie als ein „Spiel der Engel“, das von dem kollektiven Bemühen getragen wird, den Frieden innerhalb der Staatengemeinschaft zu befördern. Andere sind der Meinung, dass es in der Diplomatie darum gehe, „eine Sache zu geben und dafür zehn zu nehmen“, wie ein Mark Twain zugeschriebenes Sprichwort besagt. Häufig wird Diplomatie auch als eine „nicht enden wollende globale Cocktailparty“ betrachtet.

Es stellt sich die Frage, was das Orbán-Regime über Diplomatie denkt. Auch wenn seine Praktiken nicht explizit gegen die formalen Regeln der Diplomatie verstoßen, so biegen und dehnen sie doch die Grenzen dessen, was für seine Verbündeten noch tolerierbar ist. Adam Watson, ein Urgestein der Diplomatietheorie, hat davor gewarnt, dass die Diplomatie ihre positive Rolle für die internationale Gesellschaft nur erfüllen kann, wenn Staaten sie dazu einsetzen, einen Dialog zu fördern, der für beide Seiten von Vorteil ist. Beuten sie das diplomatische System bloß aus und schielen nur nach ihrem eigenen Vorteil, dann „verkommt Diplomatie zu einer Technik und einem politischen Instrument“. Genau das ist die Kunst der Diplomatie, die die ungarische Regierung beherrscht.


Prof. Ákos Kopper ist Humboldt Research Fellow und Gastwissenschaftler am ZOiS.