Warum Bergkarabach geopfert wurde und warum darin auch eine Chance liegen könnte
Nach dem Exodus der Bergkarabach-Armenier*innen aus ihrer Heimat ist ihr Schicksal vom Radar der internationalen Aufmerksamkeit verschwunden. Trotzdem birgt die neue Situation auch noch nie dagewesene Chancen. Ob sie genutzt werden können, hängt in hohem Maß von Aserbaidschans nächsten Schritten ab.
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Am 8. November 2023 fanden in Baku und der Stadt Chankendi in Bergkarabach (auf Armenisch bekannt als Stepanakert) aufwendige Militärparaden statt, um den neuennationalen Tag des Sieges zu feiern. Genau an diesem Tag im Jahr 2020 eroberte Aserbaidschan die historisch bedeutsame Stadt Schuscha zurück und der zweite Bergkarabach-Krieg endete.
Aserbaidschan hatte jahrzehntelag auf diesen Moment gewartet. Nach Armeniens Niederlage 2020 gelangten sieben armenisch besetzte Territorien in und um Bergkarabach zurück unter aserbaidschanische Kontrolle. Im Rahmen eines langfristig angelegten Plans der aserbaidschanische Seite, die armenische Bevölkerung Karabachs erst zu isolieren und dann auszuhungern, wurde seit Dezember 2022 der einzige Versorgungsweg zwischen Armenien und Karabach, der Latschinkorridor, blockiert. Im April 2023 richtete Baku dann in Latschin einen Checkpoint ein. Am 19. September begann die aserbaidschanische Regierung schließlich eine Blitzoperation gegen Bergkarabach. Innerhalb von zwei Tagen hatten die Verteidigungskräfte Karabachs sich ergeben und die De-Facto-Führung des Territoriums kapituliert. Über 100.000 Menschen, ein Großteil der ethnisch armenischen Bevölkerung der Region, waren Ende September aus ihrer Heimat geflohen, um vor allem in Armenien Schutz zu suchen.
Dieser kurze Konflikt im September war wahrscheinlich der letzte Akt im erbitterten, 30 Jahre währenden Streit zwischen Armenien und Aserbaidschan um den Status von Bergkarabach. Nun, da es die Souveränität über das Gebiet zurückerlangt hat, erklärt Baku den Konflikt erneut für gelöst. Ob die endgültige Eroberung wirklich die letzten Hindernisse für ein abschließendes Friedensabkommen zwischen den beiden Ländern beseitigt, bleibt jedoch fraglich.
Die humanitäre Tragödie, welche die Armenier*innen von Karabach durchleben mussten, als sie ihre Häuser, und das Land ihrer Vorfahren sowie ihr kulturelles Erbe verloren, gleicht in Teilen dem Schicksal der vertriebenen aserbaidschanischen Bevölkerung, die 1992-93 fliehen musste, als ihr Land von Armenien besetzt wurde. Die armenische Regierung hat den Armenier*innen aus Karabach einen Flüchtlingsstatus angeboten, ihnen die Möglichkeit gegeben, die armenische Staatsbürgerschaft zu erwerben, und allen vertriebenen Menschen finanzielle Unterstützung für mindestens ein Jahr zugesagt. So mancher befürchtet jedoch, dass nicht nur die materielle, sondern auch die moralische Unterstützung für die Geflüchteten irgendwann schwinden könnte.
Internationale Reaktionen
Die internationalen Reaktionen auf die seit 2021 wiederholten Einfälle Aserbaidschans in Armeniens Grenzregionen und den Massenexodus der armenischen Bevölkerung Karabachs fielen eher passiv aus. Während nationale Parlamente in den USA und der EU Aserbaidschan immer wieder dazu aufforderten, die Feindseligkeiten einzustellen, und eine internationale Mission und Sanktionen forderten, waren die Regierungen nicht dazu in der Lage oder nicht gewillt, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen. Es gibt zwei Gründe für die Passivität des Westens: Erstens hat der Wunsch, endlich den Weg für einen Frieden in der Region zu ebnen, andere Überlegungen in Regierungskreisen in den USA und der EU in den Hintergrund treten lassen. Zweitens waren womöglich wirtschaftliche Erwägungen und Aserbaidschans wachsender Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungsträger im Westen von entscheidender Bedeutung.
Die größte Enttäuschung für die ethnisch armenische Bevölkerung Karabachs war jedoch, dass sie von Russland komplett im Stich gelassen wurde. Jahrzehntelang haben die Armenier*innen sich auf Moskau als ihren zentralen Verbündeten verlassen, was sie nun im Rückblick als einen Fehler betrachten. Der Kreml hat sie fallengelassen, indem er de facto die Seiten gewechselt und sich um eine neue strategische Allianz mit Aserbaidschan bemüht hat. Russland kritisierte zwar im August 2023 die armenische Regierung für ihre Anerkennung Bergkarabachs als Teil Aserbaidschans. Allerdings tat der Kreml nichts, um den Status und die Autonomie der Region wieder auf die Agenda zu setzen. Anders als viele glauben hat Russland Karabach nicht geopfert, um Armenien und dessen aktuelle Regierung für ihren westlichen Kurs abzustrafen. Vielmehr ist der Kreml selbst der Tatsache zum Opfer gefallen, dass sich seine Beziehungen zu Aserbaidschan zuletzt umgekehrt hatten: Mittlerweile ist es Russland, das in Sachen Handel, Transit und Reexporte, einschließlich des Verkaufs von russischem Gas nach Europa, von Aserbaidschan abhängig ist.
Was Georgien als einen regionalen Akteur betrifft, zeigen die Georgier*innen viel Empathie für die Bevölkerung von Bergkarabach. Politisch unterstützt die georgische Regierung allerdings aufgrund eigener Territorialkonflikte das aserbaidschanische Vorgehen. Tbilisi setzt große Hoffnungen auf ein konkretes Friedensabkommen und hat sich in der letzten Zeit proaktiv als unparteiischer Vermittler angeboten, um die Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan zu unterstützen. Georgischen Expert*innen zufolge würde ein Friedensabkommen dem Südkaukasus neue Entwicklungsperspektiven im Hinblick auf regionale Zusammenarbeit, einer stärkeren Emanzipation der Region von äußeren Mächten und schlussendlich auch einer regionalen Integration bieten.
Von allen Konfliktparteien hat Armenien die größten Verluste erlitten und kann nur wenig Erfolge vorweisen, mit Ausnahme des Erhalts seiner territorialen Integrität und seiner nunmehr übersehenen demokratischen Errungenschaften, die im Land selbst heutzutage nicht mehr dieselbe Wertschätzung erfahren wie vor dem Krieg 2020. Jerewan sah sich gezwungen, die Sache der Karabach-Armenier*innen aufzugeben, da es sich keinen weiteren bewaffneten Konflikt mit Baku leisten konnte. Armenien steht nicht nur am Verhandlungstisch unter großem Druck, sondern wird auch nach wie vor durch wiederholte aserbaidschanische Übergriffe auf sein Territorium immer wieder in Bedrängnis gebracht.
Frieden in Sicht?
Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan haben verkündet, dass ein Friedensabkommen in greifbarer Nähe sei. Beide Seiten konnten sich auf drei Kernprinzipien einigen: gegenseitige Anerkennung der territorialen Integrität, Festlegung der gemeinsamen Grenzen und Öffnung von Transportverbindungen. Lediglich „Details" müssten noch geklärt werden. Vieles hängt nun von Aserbaidschan und Präsident Ilham Alijew ab: ob er von seiner mehrdeutigen Rhetorik ablässt, ob er endgültig von der Idee abrückt, im Süden Armeniens den sogenannten Sangesurkorridor zu schaffen, der das aserbaidschanische Kernland mit der Exklave Nachitschewan verbinden würde, und ob ernstgemeinte Vorbereitungen getroffen werden, um die Beziehungen zur armenischen Seite zu normalisieren.
Unabhängig davon, welche Vereinbarungen letztendlich getroffen werden, wird es bis zu ihrer Umsetzung noch ein steiniger Weg sein. Im Augenblick werden mehr denn je neue vertrauensbildende Maßnahmen benötigt. Diese Maßnahmen könnten durch internationale Geber in die Wege geleitet und finanziert werden. Anders als in der Vergangenheit braucht es jedoch keine von außen initiierten Expert*innenrunden. Stattdessen sollten konkrete Maßnahmen ergriffen werden, um die realen Sorgen der Menschen, die von dem Konflikt betroffen sind, zu lindern: politische Vorkehrungen, um kurzzeitige Besuche zu ermöglichen, und/oder Entschädigungsregelungen, Wassermanagement in den Grenzregionen, regelmäßige gegenseitige Besuche von Friedhöfen und Kulturstätten sowie weitere Formen des Kontakts der Menschen untereinander. Zeit, Geld und Mühen sollten auf eine aufrichtige Weise in Projekte von wirklicher Bedeutung investiert werden, um an einem nachhaltigen Friedensprozess in der Region zu arbeiten.
Dr. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und Teil des KonKoop-Netzwerks, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.