Wie die belarusische Protestkunst Fürsorge neu denkt
In Belarus schaffen politische Künstler*innen neue kreative Formen der Unterstützung und Solidarität. Ihre Initiativen gehen über traditionelle Vorstellungen von Fürsorge hinaus, indem sie ein Gefühl von Verletzlichkeit thematisieren, und die gegenseitige Abhängigkeit im Widerstand gegen Unterdrückung betonen.
Aus dem Englischen übersetzt von Michael G. Esch.
Nach der manipulierten Präsidentschaftswahl in Belarus 2020 und den größten Massenprotesten in der Geschichte des Landes ist ein Prozent der gesamten erwachsenen Bevölkerung in Belarus aus politischen Gründen inhaftiert worden. Laut der Washington Post steht Belarus hinsichtlich der Zahl politischer Gefangener je 100.000 Einwohner*innen weltweit auf dem siebten Platz.
Vor diesem Hintergrund hat sich ein Gefühl der Verletzlichkeit als zentrales Thema belarusischer Protestkunst ergeben. Die Betonung von Fragilität macht das dringende Bedürfnis nach physischer und emotionaler Fürsorge all derer, die sich im Widerstand engagieren, deutlich. Künstler*innen in Belarus ergründen dieses Thema in ihrer Arbeit, indem sie die Verletzungen derjenigen ans Licht bringen, die ihr Leben für die Sache aufs Spiel setzen. Dadurch stellen die Künstler*innen gesellschaftliche Normen in Frage, die Verletzlichkeit diffamieren, und propagieren stattdessen eine Kultur der Fürsorge, mit der die am stärksten von staatlicher Gewalt Betroffenen aufgefangen werden sollen.
Diese Verletzlichkeit befördert die Idee, Infrastrukturen der Fürsorge aufzubauen, um auf diese Weise Hilfsnetzwerke, Ressourcen, Heilungsräume und Solidarität unter denen bereitzustellen, die an vorderster Front des Widerstands stehen. Die Fürsorgestrukturen, die es in der belarusischen Kunstszene gibt, gehen über konventionelle Akte von Wohltätigkeit und die Verteilung von Ressourcen hinaus. Sie verstehen Fürsorge vielmehr als eine kollektive und strukturelle Praxis nicht nur für Andere, sondern in Zusammenarbeit mit Anderen.
Die Politisierung von Fürsorge
Mitten in den Protesten organisierte die belarusische Künstler*innengruppe eeefff ein Projekt unter dem Namen „Das Museum der Zukunft“. Ihr Hauptziel bestand darin, Distanz zu schaffen für eine Reflexion und einen Dialog zwischen Nachbar*innen im politischen Sinne. Dzina Žuk und Nikolai Spesivcev, die Künstler*innen hinter dem Projekt, lebten in einer der protestierenden Nachbarschaften und veranstalteten dort ihren Workshop. Die Initiative fand neben einer Reihe anderer von lokalen Bewohner*innen initiierten Aktivitäten wie Konzerten und Versammlungen statt. Den Künstler*innen war es insbesondere ein Anliegen, mittels der Vision ihre Nachbar*innen dazu anzuregen, über neue, alternative Infrastrukturen nachzudenken.
Dabei nahm eeefff bewusst die Rolle einer Vermittlerin für ein künftiges Protestmuseum, statt der der Urheberin, an. Die Absicht der Gruppe bestand darin, eine Plattform für verschiedene Stimmen zu schaffen und die Interaktion zwischen einem weiten Kreis von unterschiedlichen Personen anzustoßen. Diese Herangehensweise spiegelt die politische Praxis der Fürsorge wider und fordert dazu auf, neue Formen von gegenseitiger Fürsorge zu erkunden.
Diese Politisierung von Fürsorge ist nicht auf die belarusische Protestbewegung beschränkt, sondern ist inzwischen ein globales Phänomen. Überall auf der Welt steigt die Bedeutung von Fürsorge. Die aus Belarus stammende Künstlerin Marina Napruškina betont, in welch harscher Lage sich belarusische Protestierende befinden: „Die Leute haben außer ihren ungeschützten Körpern nichts, was sie der staatlichen Gewalt entgegensetzen könnten. Also offenbaren sie sich hoffnungsvoll als Zeichen von Unterstützung und Solidarität, aber sie werden vom staatlichen Terror in Stücke gerissen, geschlagen und sogar getötet.“
Alternative Hilfsstrukturen
Die belarusische Protestkunst spielt für den Aufbau alternativer Fürsorgemodelle eine entscheidende Rolle, weil sie die Vorstellungskraft dazu verwendet, zur Bildung solcher alternativer Strukturen beizutragen. Ein bemerkenswertes Beispiel ist das „Museum der Steine“, das als Erweiterung eigenverlegerischer Praktiken entstand, die ihren Ursprung in den Protesten von 2020 haben und bis heute fortgeführt werden. Diese häufig als Nachbarschaftszeitungen bezeichneten Graswurzelinitiativen sind hybride Infrastrukturen, die grundlegende politische Informationen auf digitalen Plattformen und im physischen Raum verbreiten.
Das Museum der Steine veranschaulicht diese alternative Fürsorgeinfrastruktur, indem es vielfältige Stimmen verstärkt und das bestehende Netzwerk der Nachbarschaftszeitungen durch Interviews mit Anarchist*innen, Angehörigen der LGBTQ+-Community, Militanten und anderen erweitert. Die Publikation möchte Möglichkeiten erkunden, wie Fürsorgeeinrichtungen innerhalb bestimmter Nachbarschaften organisiert werden können.
Seit Russlands Invasion der Ukraine hat sich der Bedarf an Fürsorgeinfrastrukturen weiter verstärkt. Während Kunstprojekte wie das Museum der Steine fortgeführt werden, haben andere ihr Verständnis der Politisierung von Fürsorge um das Konzept der Interdependenz erweitert. Ein Beispiel für einen solchen Aufbau von Infrastruktur ist die Internationale Koalition der Kulturschaffenden in Solidarität mit der Ukraine (antiwarcoalition.art). Diese von Künstler*innen aus der ganzen Welt geschaffene Plattform dient als Sammlungsort für Stellungnahmen gegen Aggressoren. Da sie als Antwort auf die russische Aggression und den Krieg gegen die Ukraine entstanden ist, ermöglicht sie es Künstler*innen, gegen Krieg, Diktatur und Autoritarismus zu protestieren und gleichzeitig ihre Solidarität mit sowohl denen zum Ausdruck zu bringen, die von diesem Konflikt betroffen sind, als auch mit denen, die weltweit gegen unterschiedliche Formen von Repression und Terror Widerstand leisten.
Die Initiative antiwarcoalition.art weist zwei Dimensionen auf. Auf der einen Seite funktioniert sie als eine Onlineplattform, auf der Künstler*innen ihre Arbeit vorstellen können, während sie sich auf der anderen in Offlineformaten wie Ausstellungen, Filmvorführungen, Diskussionen und Workshops manifestiert, die den Dialog und die Entwicklung einer reflexiven Sprache fördern. Dies soll vor allem ein Verständnis dafür fördern, dass die Menschen keine isolierten Individuen, sondern miteinander verbunden sind. Der Krieg gegen die Ukraine überschreitet Grenzen und ist in komplexe ökonomische, koloniale und politische Kontexte eingebunden. Er betrifft durch die Auswirkungen auf die Verteilung von Getreide, Umweltkatastrophen, die Gefahr einer nuklearen Katastrophe und Wasserverschmutzung den gesamten Planeten.
Über den künstlerischen Ausdruck hinaus
Die Besonderheit der belarusischen Protestkunst liegt darin, dass sie sich aktiv am Aufbau von Fürsorgeinfrastrukturen beteiligt, die ihrer Natur nach politisch sind. Dieses Engagement für Fürsorge geht insofern über traditionelle Begriffe von Unterstützung und Solidarität hinaus, als dass es ein umfassenderes Verständnis von Interdependenz und Widerstand gegen unterdrückerische Systeme in sich einschließt. Durch Projekte wie das Museum der Steine und antiwarcoalition.art haben belarusische Künstler*innen ihre politische Imagination dafür eingesetzt, alternative Fürsorgeinfrastrukturen zu schaffen. Letztlich geht die Einbeziehung dieser Infrastrukturen in die belarusische Protestkunst über den künstlerischen Ausdruck hinaus: Sie bedeutet ein Bekenntnis zur Pflicht, unterdrückerische Strukturen zu entlarven, diejenigen zu unterstützen, die von staatlicher Gewalt betroffen sind, und globale Solidarität zu fördern.
Antonina Stebur ist Kuratorin, Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin. Ihre Forschungsinteressen umfassen Feminismus, postsowjetische Studien, politische Kunst, Taktiken des Widerstands und der Solidarität und die Entwicklung entsprechender Infrastrukturen.