Wiederaufbau und EU-Beitritt der Ukraine: Die Bedeutung inklusiver Partizipation
Die Ukraine Recovery Conference am 11.-12. Juni betont die Notwendigkeit, ein breites Spektrum an gesellschaftlichen Stakeholder*innen am Wiederaufbau der Ukraine zu beteiligen. Wie dieses Prinzip am Schnittpunkt von Wiederaufbau und EU-Beitritt des Landes umgesetzt werden kann, ist jedoch alles andere als klar.
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Wenn sich die Teilnehmer*innen der Ukraine Recovery Conference 2024 (Ukraine-Wiederaufbaukonferenz 2024) diese Woche in Berlin treffen, werden sie darüber diskutieren, wie das Land erfolgreich wiederaufgebaut und modernisiert werden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, wird die Konferenz die Notwendigkeit eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes betonen. Konkret bedeutet das, dass Vertreter*innen lokaler Verwaltungen, unabhängiger Wirtschaftsverbände und zivilgesellschaftlicher Organisation mit ukrainischen und internationalen Expert*innen zusammengebracht werden sollen. Dass die Konferenz einen besonderen Fokus auf einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz legt, kommt gerade zur rechten Zeit, denn die Vorbereitungen für den EU-Beitritt der Ukraine machen ebenfalls deutlich, wie sehr es inklusiver Partizipation bedarf.
Sowohl der Wiederaufbauprozess als auch der EU-Beitritt können eine Top-Down-Dynamik entwickeln, die der Exekutive beträchtliche Entscheidungsspielräume lässt. Allerdings zeigen die Erfahrungen anderer Wiederaufbauprozesse, dass es wichtig ist, unterschiedliche Stakeholder*innen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft einzubeziehen. Auf ähnliche Weise haben auch vorherige EU-Erweiterungsrunden deutlich gemacht, dass die Umsetzung von EU-Regeln von den Kapazitäten verschiedener gesellschaftlicher Akteure und den Anreizen abhängt, die ihnen geboten werden. Inklusive Partizipation ist also nicht nur entscheidend für den Wiederaufbau und EU-Beitritt der Ukraine, sie kann auch Bestandteil eines Mechanismus sein, der beide Prozesse eng miteinander verknüpft.
Zwei Aspekte sollten dabei besondere Beachtung finden: Erstens kann Partizipation unterschiedliche Formen annehmen, je nachdem, welchem Zweck sie dient. Zweitens muss entschieden werden, welche Stakeholder*innen einbezogen werden sollen und wie sichergestellt wird, dass ihre Beteiligung den angestrebten Zielen dient und dazu beiträgt, zugrundeliegende Machtasymmetrien abzubauen.
Warum inklusive Partizipation nützlich ist
Relevante Interessengruppen können auf unterschiedliche Weise an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Dazu gehört, Informationen und Wissen auszutauschen, Kontrollfunktionen auszuüben und auf politische Entscheidungen direkt Einfluss auszuüben. Im Fall der Ukraine würde letzteres den relevanten Interessengruppen ermöglichen, die Prioritäten beim Wiederaufbau des Landes an einen sich wandelnden Kontext anzupassen sowie über Maßnahmen zu entscheiden, die aus ihrer Sicht am meisten dazu beitragen würden, die Regeln der EU vor Ort umzusetzen.
Inklusivität kann dementsprechend verschiedenen Zwecken dienen, die sich im Laufe des Partizipationsprozesses verändern können. Maßnahmen, die dazu dienen, die Qualität von Entscheidungen auf Grundlage der Ergebnisse von Anhörungen, Untersuchungen und Beratungskomitees zu verbessern, erfüllen einen funktionalen Zweck. Einen politischen Zweck verfolgt inklusive Partizipation dann, wenn sie eine stärkere Identifikation von Stakeholder*innen mit den Entscheidungsprozessen bewirken soll. Es besteht hier ein klarer Zusammenhang mit der Frage der demokratischen Resilienz, da Inklusivität bürgerschaftliches Engagement und das Vertrauen in politische Institutionen stärkt. Im ukrainischen Kontext geht inklusive Partizipation auch Hand in Hand mit den laufenden Dezentralisierungsbemühungen.
Darüber hinaus erfüllt inklusive Partizipation auch einen gesellschaftlichen Zweck, insofern sie für den Aufbau von sozialem Kapitel von Nutzen sein kann, indem sie unterschiedliche Akteur*innen zusammenbringt, einschließlich marginalisierten und vulnerablen Gruppen, die sonst wenig Kontakt untereinander haben und sich von nationalen politischen Entscheidungsprozessen entfremdet fühlen.
Wen beteiligen und wie
Der Zweck inklusiver Partizipation sollte darüber entscheiden, welche Stakeholder*innen einbezogen werden und wie. Soll inklusive Partizipation einem funktionalen Zweck dienen und etwa die Qualität von Entscheidungen verbessern, dann sollten neben Expert*innen diejenigen Gruppen eingebunden werden, die von diesen Entscheidungen betroffen sind. Dadurch wird eine wertvolle Integration lokalen und professionellen Wissens ermöglicht. Zum Beispiel können Menschen, die vor Ort leben, häufig Einsichten in einen lokalen Kontext beisteuern, die nationale und internationale Expert*innen zu Themen wie zum Beispiel Wohnen oder die Gestaltung des öffentlichen Raums möglicherweise nicht besitzen.
Mit einer ähnlichen Stoßrichtung unterstreichen der Ukraine-Plan der ukrainischen Regierung und die Ukraine-Fazilität der EU die Bedeutung kleiner und mittelständischer Unternehmen, wenn sie über Strategien zur Verbesserung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit der Ukraine nachdenken. Um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, braucht es darüber hinaus jedoch eine Koalition aus Unternehmen, Forschungsinstituten, Universitäten, berufsbildenden Einrichtungen, Regulierungsbehörden und Investmentagenturen. Programme zur technischen Unterstützung und Kapazitätsentwicklung sollten daher einem inklusiven Ansatz folgen, der Ressourcen und Wissen in den Bereichen Logistik, Technologie und Marketing bündelt, um den besonderen Erfordernissen spezifischer Sektoren gerecht zu werden.
Eine politisch ausgerichtete Partizipation sollte mittels öffentlicher Anhörungen und anderer Beteiligungsformate Gruppen, die aufgrund des Kriegs besonders vulnerabel sind, und marginalisierte Stakeholder*innen, etwa einkommensschwache Gruppen, einbeziehen. Es ist aber auch notwendig, Mechanismen zu entwickeln, um Ukrainer*innen einzubinden, die aktuell außerhalb der Ukraine leben und womöglich in absehbarer Zukunft nicht in das Land zurückkehren können oder wollen.
Desgleichen ist es wichtig, bei der Auswahl relevanter Stakeholder*innen Diversität zu gewährleisten, wenn inklusive Partizipation dazu beitragen soll, soziales Kapital aufzubauen. Zumindest anfangs wird Diversität voraussichtlich zu Konflikten führen. Sie könnte jedoch dazu beitragen, ein gemeinsames Verständnis des Prozesses zu gewährleisten, den erlassenen Maßnahmen einen breiteren Rückhalt zu verschaffen und den Weg für innovativere Lösungen freizumachen.
Außerdem ist es wichtig, sich den potenziellen Machtasymmetrien zwischen verschiedenen Stakeholder*innen bewusst zu sein, Prozeduren zu entwickeln, um inklusive Partizipationsprozesse dahingehend zu steuern und relevanten Stakeholder*innen die erforderlichen Ressourcen für eine Teilhabe an die Hand zu geben. Vertreter*innen großer Unternehmen oder Verbände mögen beispielsweise keine Hemmungen besitzen, im Rahmen öffentlicher Anhörungen zu sprechen, Bürger*innen oder Vertreter*innen kleinerer Graswurzelinitiativen könnten jedoch von einer Einbeziehung in Form von Workshops oder gezielten Befragungen profitieren.
Wenn das Ziel der Beteiligung lediglich darin besteht, besser informierte Entscheidungen zu treffen, ist es auf einer prozeduralen Ebene unpassend, einen Konsens unter den Stakeholder*innen herstellen zu wollen. Soll inklusive Partizipation aber auch einem politischen Zweck dienen, zum Beispiel einer stärkeren Identifikation mit dem Entscheidungsprozess, können öffentliche Anhörungen, Workshops oder gezielte Befragungen geeignete Methoden sein.
Insgesamt besteht eine entscheidende Herausforderung für die Ukraine Recovery Conference und anschließende politische Maßnahmen für den Wiederaufbau und EU-Beitritt des Landes darin, inklusive Formen der Partizipation zu institutionalisieren und ihnen den beschriebenen politischen Zweck zu geben. Darin liegt der Schlüssel, um das Vertrauen und Engagement der Stakeholder*innen zu gewinnen und zu bewahren und damit im Gegenzug die Demokratie zu stärken.
Gwendolyn Sasse ist wissenschaftliche Direktorin des ZOiS.
Julia Langbein leitet den Forschungsschwerpunkt Politische Ökonomie und Integration am ZOiS.