Zwischen Wunschdenken und Fatalismus: Die Rolle von Elitenspaltungen in Autokratien
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 hat der russische Präsident Wladimir Putin mit seiner Herrschaftsweise klargemacht, dass die wirtschaftliche, militärische und politische Macht im Land in seinen Händen liegt. Die offensichtlichste Demonstration seiner autoritären, personalistischen Herrschaft sind die ausgedehnten Sitzungen des Sicherheitsrats, dessen Mitglieder scheinbar lediglich die Entscheidungen des Präsidenten absegnen. Tragende Säulen des Regimes wie die Silowiki, der Inlandsgeheimdienst FSB (Federalnaja sluschba besopasnosti, „Föderaler Sicherheitsdienst“), die Oligarch*innen, die Partei „Einiges Russland“ oder die Nationalgarde finden sich indes inmitten eines brutalen Kriegs, steigenden wirtschaftlichen Drucks und gesellschaftlicher Unzufriedenheit wieder.
Da Putin immer mehr Macht in seiner Person vereint und von Menschen umgeben ist, die zu allem Ja und Amen sagen, entsteht der Eindruck, die herrschende Elite würde lediglich seine Entscheidungen abnicken. Im Großen und Ganzen mag das auch stimmen. Würde Putin allerdings morgen die Unterstützung zentraler Eliten verlieren, wäre er auch von deren Ressourcen und Netzwerken abgeschnitten. Ein solches Szenario könnte für seine Regierung mit hohen politischen Kosten verbunden sein. Wie Studien über autoritäre Politik gezeigt haben, sind Regime auf die Kooperation der Eliten angewiesen, um zu überleben, egal wie viel Macht in einigen wenigen Händen konzentriert ist. Der Kreml hat deshalb harte Maßnahmen ergriffen, um Spaltungen innerhalb der Elite und damit einen Zusammenbruch des Regimes zu verhindern.
Spaltungen der Elite und Zusammenbruch des Regimes
In Ländern wie Russland und Belarus bieten der Umfang und die Brutalität des Krieges, der wirtschaftliche Druck und die Unzufriedenheit in der Gesellschaft Spaltungstendenzen einen fruchtbaren Boden. Und obwohl einige Äußerungen von Dissens durch den Nebel der Ungewissheit, der Elitedynamiken in autoritären Systemen üblicherweise umgibt, nach außen dringen konnten, hat ihr begrenzter Beitrag zum Sturz des Regimes womöglich so manche, die bisher einem gewissen Wunschdenken verfallen waren, zu Pessimist*innen gemacht. Ein Beispiel wäre etwa der Rücktritt von Putins Berater Anatolij Tschubais. Folgt man einem solchen pessimistischen Narrativ, kann ein Gefühl der Unausweichlichkeit entstehen, und Spaltungen innerhalb der Elite erscheinen lediglich als kleinere Risse im großen Geschehen des Krieges.
Wenn Forscher*innen meinen, dass die Ergebnisse von Elitenspaltungen von vorneherein feststünden, können sie leicht übersehen, warum manche von ihnen zu politischem Wandel führen, andere aber nicht. Meine Studie über abtrünnige Eliten in Autokratien zeigt aus einer vergleichenden Perspektive, dass Eliten, die sich von der herrschenden Partei abwenden, die Machthabende nur in 40 Prozent der Fälle zu demokratischen Reformen zwingen. Zu diesen Eliten gehören amtierende oder ehemalige Minister*innen, Mitglieder des Parlaments oder der Parteiführung, regionale und kommunale Führungskräfte und verschiedene Meinungsführer*innen, die nicht unbedingt Mitglieder der Regierungspartei sein müssen. Werden sie abtrünnig, offenbaren sie die Schwächen des Regimes und zwingen autoritär Herrschende dazu, der von ihnen ausgehenden Bedrohung mit demokratischen Reformen statt Repression zu begegnen.
Nichtsdestotrotz schaffen viele autoritäre Regierungen es, eine rasche Ausbreitung von Spaltungen innerhalb der Elite zu verhindern oder aber ihre demokratisierende Wirkung einzudämmen. Allerdings ist ein unablässiges Gegensteuern notwendig, um diese Bedrohungen abzuwehren. Für Beobachter*innen bietet sich somit eine gute Möglichkeit, die entscheidende Frage zu untersuchen, wie Regime Bedrohungen vonseiten der Elite abwenden und welche Kosten damit verbunden sind.
Spaltungen der Elite eindämmen
Angesichts des militärischen Versagens Russlands greift Putin auf ein immer größer werdendes Repertoire von autoritären Kontrollmaßnahmen zurück, um den Gehorsam regimenaher Eliten sicherzustellen. Diese Strategien umfassen eine Vielzahl unterschiedlicher Instrumente, die dazu dienen, seine Kader zusammenzuhalten und Opposition zu unterdrücken.
Um den Unmut einiger entscheidender Schlüsselfiguren zu lindern, berief der Präsident ins Wanken geratene Eliten erneut auf wichtige Posten. So wurden die Zentralbankchefin Elwira Nabiullina und der Vorstandsvorsitzende der staatseigenen Bank VTB Andrej Kostin, die sich mit dem Befehl zum Einmarsch in der Ukraine unzufrieden gezeigt hatten, von Putin für eine weitere Amtszeit bestätigt. Gleichzeitig kam es unter Journalist*innen zu einer Rücktrittswelle, nachdem eine Reihe von niederrangigeren Mitarbeiter*innen dem staatlichen Propagandaapparat den Rücken gekehrt hatten. Mithilfe von internen Kontrollen, Entlassungen und Kooptationstechniken wie der Vergabe von Boni haben die staatlichen Medienmanager*innen eine weitere Ausbreitung dieser Rücktrittswelle verhindert.
Unterdessen sehen sich Demonstrierende beispiellosen Repressionen ausgesetzt. Außerdem sorgte der Kreml dafür, dass die Unzufriedenheit sich nicht auf die Ergebnisse der Kommunal- und Regionalwahlen 2022 auswirken konnte. Unter anderem verweigerten die Behörden Oppositionskandidat*innen die Wahlzulassung und nutzen das elektronische Stimmabgabesystem aus, um regierungstreuen Kandidat*innen die Wiederwahl zu sichern.
Natürlich gibt es innerhalb der Elite auch eine einflussreiche Fraktion von Kriegsbefürworter*innen. Anhand des Beispiels oben wird jedoch deutlich, dass die russische Regierung massive Ressourcen aufwenden muss, um sich die Loyalität der Eliten zu sichern. Auf sie ist das Regime angewiesen, während es im Ausland Krieg führt. Allerdings hat es nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung, um die Kooperation der Eliten zu gewährleisten. Diese Tatsachen verdeutlichen, dass eine erfolgreiche Regierungsführung in Zeiten großer Unzufriedenheit mittel- und langfristig mit immer höheren Kosten verbunden ist.
Sind zunehmende Spaltungen zu erwarten?
Gegenwärtige Erklärungsmodelle gehen davon aus, dass drei Bedingungen erfüllt sein müssen, damit regimetreue Eliten abtrünnig werden: Sie müssen erstens davon überzeugt sein, dass die Regierung und ihre verschiedenen Stützen nicht mehr in der Lage sind, sie zuverlässig mit materiellen Vorteilen zu versorgen; zweitens glauben, dass andere Eliten sich ihnen anschließen oder ihnen beipflichten werden, wenn sie versuchen, ihren Unmut über die Regierung zum Ausdruck zu bringen; und drittens damit rechnen, dass ein großer Teil der Bürger*innen oder der existierenden Oppositionsgruppen mit ihnen sympathisieren und sie unterstützen werden.
Putin hat vor diesem Hintergrund ernstzunehmende Herausforder*innen seiner Macht wie Alexej Nawalny aus dem Weg geräumt und gesellschaftlichen Dissens mit stumpfer Repression niedergeschlagen. Viele Oppositionelle haben das Land verlassen und einige wurden wegen Landesverrats bestraft. Regimenahe Eliten werden dadurch entmutigt, sich der Opposition anzuschließen.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lassen sich Unruhen innerhalb der Elite am besten mit Ungewissheiten über die zukünftige Verteilung materieller Vorteile erklären, die stark vom Kriegsverlauf in der Ukraine abhängig ist. Zum Beispiel haben die jüngsten militärischen Niederlagen auf höchster Ebene bereits zu Reibungen geführt. Selbst für Kriegsbefürworter*innen können sie eine willkommene Gelegenheit sein, die eigene politische Karriere auf Kosten anderer Angehöriger der Elite voranzutreiben. Der Unmut derer, die ihren politischen Posten verloren haben oder in der Öffentlichkeit als Schuldige geradestehen müssen, wird so noch weiter anwachsen.
Die russischen Eliten haben gesehen, dass bisherige Eskalationen die Lage nur weiter verschlimmert haben. Es wird deshalb nicht einfach, sie mithilfe von Posten, wirtschaftlichen Vorteilen oder anderen Privilegienversprechen von einer weiteren Eskalationsrunde zu überzeugen. Je länger der Krieg andauert, desto wahrscheinlicher könnten also nicht nur Machtkämpfe und Brüche innerhalb des Regimes, sondern auch sein kompletter Zusammenbruch werden. Das russische Regime führt an mehreren Fronten gleichzeitig Krieg – sowohl auswärts als auch daheim.
Dr. Adrián del Río ist Humboldt-Postdoc-Stipendiat und Gastwissenschaftler am ZOiS.