Russlands Jugend und der Tag des Sieges: Im Krieg vereint?
Lange hatte der Kreml gezögert, doch nun wurde die Absage der aufwendig geplanten Feierlichkeiten anlässlich des 75. Jahrestags des Kriegsendes unumgänglich. Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird, sollte dieses Jahr besonders groß gefeiert werden. COVID-19 hat der russischen Führung jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Am Nachmittag des 16. Aprils wandte sich der russische Präsident Wladimir Putin in einer Videokonferenz an die Bevölkerung. Er verkündete, dass die Vorbereitungen für den „Tag des Sieges“ angesichts der Pandemie vorerst ausgesetzt seien. Sie würden noch 2020 nachgeholt, wenn sich die Lage in Russland entspannt habe.
Die Feier des Sieges der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland am 9. Mai 1945 ist für die russische Regierung außenpolitisch ein zentrales PR-Event und innenpolitisch die wichtigste Ressource für die Herausbildung einer russischen Identität. In seiner Videobotschaft betonte Putin: „Ich bin sicher, der 9. Mai wird auch in diesem Jahr ein Tag werden, der die Gesellschaft, unser Volk, das ganze Land vereint.“ Mit seiner auf Geschichte rekurrierenden Identitätspolitik hat der Kreml insbesondere junge Menschen im Blick, deren Geschichtsbild als noch formbar gilt. In den Schulen, in Angeboten zur patriotischen Erziehung im Freizeitbereich und in staatlich geförderten Kulturproduktionen wird das Bild einer ruhmreichen Vergangenheit entworfen, an das der heutige russische Staat nahtlos anzuknüpfen scheint.
Meinungsumfragen und Fokusgruppen-Interviews mit jungen Menschen, die das Berliner Zentrum für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS) durchgeführt hat, zeigen allerdings, dass Russlands Jugend mit dem offiziellen Identitätsangebot des Kremls sehr differenziert umgeht. So ist der Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland am 9. Mai 1945 zwar auch in der Wahrnehmung von jungen Russinnen und Russen das zentrale Ereignis in der Geschichte ihres Landes. Und unabhängig von ihrer politischen Einstellung bringen sie Stolz und Dankbarkeit gegenüber ihren (Ur-)Großeltern, aber auch gegenüber dem Staat zum Ausdruck und rücken in ihren Erzählungen die Opfer, die für diesen Sieg erbracht wurden, in den Hintergrund. Das ist insofern erstaunlich, als dass kulturelle Produktionen, auch staatlich finanzierte, das Leid der Menschen während des Krieges explizit zeigen – nicht zuletzt, weil es ohne Opfer keine Helden geben kann. Russlands Jugend teilt auch die Ansicht, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für die Gegenwart relevant sei und gepflegt werden müsse. Überraschenderweise aber empfinden viele von ihnen die alljährlichen staatlichen Gedenkfeierlichkeiten des 9. Mai als dem historischen Ereignis unangemessen.
Sie kritisieren, unabhängig von ihrer politischen Einstellung, dass die russische Führung den 9. Mai für eine Agenda missbrauche, die nichts mit dem Ereignis gemein habe. Die Präsentation heutiger Stärke sei dem Kreml dabei wichtiger als das eigentliche Gedenken. Auch die enormen finanziellen Ressourcen, die dafür aufgewendet werden, während wie es eine junge Frau ausdrückt, „in den Dörfern Veteranen verhungern“, stoßen auf Kritik. Viele würden intimere Erinnerungsformen bevorzugen, etwa im Familienkreis, bei dem auch daran erinnert werde, dass, so ein junger Mann, „der Sieg durch die Opfer der Menschen errungen wurde, nicht durch den Staat.“ COVID-19 könnte in diesem Jahr dazu führen, das tatsächlich vor allem innerhalb der Familien an den Krieg, an seine Opfer und Helden, erinnert wird.
Die Rolle Josef Stalins wird von Russlands junger Generation abhängig von ihren politischen Präferenzen unterschiedlich eingeschätzt. Zwar sind sich alle jungen Menschen der stalinistischen Repressionen bewusst, denen die sowjetische Bevölkerung auch während des Krieges ausgesetzt waren. Ihre Bewertung des totalitären Herrschers unterscheidet sich aber je nach politischer Selbstverortung. Während regimekonforme junge Russen Stalins positiven Beitrag für den Sieg und den Wiederaufbau des Landes loben, kritisieren regimekritische Interviewte die exzessive Gewalt gegen die eigene Bevölkerung. Doch selbst sie betonen, Stalin habe einen wichtigen Beitrag für den Sieg im Zweiten Weltkrieg geleistet.
In Abgrenzung oder Ergänzung zum staatlich zelebrierten Kriegsgedenken hatten russische Bürgerinnen und Bürger seit 2007 eine bemerkenswerte Form des persönlichen Erinnerns an den Zweiten Weltkrieg gefunden. In den anfänglich privat organisierten Gedenkmärsche des Unsterblichen Regiments gedachten sie ihrer Verwandten, die im Krieg gekämpft hatten. Seit 2015 allerdings sind diese Märsche Bestandteil des offiziellen Festprogramms. In Moskau zeigte sich Präsident Putin in der ersten Reihe des Unsterblichen Regiments. Auch jetzt verkündete Putin, dass die ebenfalls von den Absagen betroffenen Gedenkmärsche, die ihm ein besonderes Anliegen seien, nachgeholt werden. Die russische Führung lässt sich ungern die Deutungshoheit über das wichtigste Ereignis der russischen Geschichte aus der Hand nehmen.