80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz
Am 27. Januar 1945 befreite die sowjetische Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Repräsentant*innen Russlands sind zur offiziellen Gedenkveranstaltung am 80. Jahrestag der Befreiung ausdrücklich nicht eingeladen. ZOiS-Wissenschaftler Félix Krawatzek erklärt, welche Rolle das Datum im russischen Geschichtsnarrativ spielt.
Auschwitz ist ein zentraler Erinnerungsort für das Gedenken an den Holocaust. Wie erinnert man sich heute in Russland und Deutschland an die Befreiung des NS-Vernichtungslagers?
In Deutschland und anderen westlichen Ländern wird Auschwitz als das Symbol der entmenschlichenden Gewalt des Holocausts erinnert. Seit 1996 ist der Tag seiner Befreiung ein bundesdeutscher Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, und 2005 haben die Vereinten Nationen diesen Tag als den Holocaust-Gedenktag erklärt. Traditionell findet an diesem Tag auch eine Gedenkveranstaltung in Auschwitz statt, zu welcher die Russische Föderation seit 2023 nicht mehr eingeladen ist. Parallel zu diesem Auseinanderdriften von politischen Diskursen ist auch das Wissen zur Befreiung von Auschwitz mittlerweile zwischen Ländern und verschiedenen Gruppen in den Ländern sehr unterschiedlich. In Russland weiß eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, dass die Rote Armee Auschwitz befreite. In Deutschland sind es jedoch laut einer ZOiS-Umfrage weniger als die Hälfte aller Befragten, und ein Viertel geht davon aus, dass es die USA waren. Im Kontrast dazu haben gerade ältere Personen mit einer Zuwanderungsgeschichte aus Russland dieses Wissen mehrheitlich vor Augen, auch wenn es im generationellen Wandel abnimmt (80 % bei den über 35-Jährigen im Vergleich zu 60 % bei denen zwischen 18 und 34). Auch der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland ist immer noch vorhanden – so geben 55 % der befragten Personen in den neuen Bundesländern die korrekte Antwort an, aber nur knapp über 40 % in den alten Bundesländern.
Der Kreml hat Geschichte immer wieder instrumentalisiert, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine. Welche Rolle spielt das Datum im offiziellen russischen Diskurs über den Zweiten Weltkrieg?
Der 27. Januar ist in der letzten Zeit zu einem wichtigeren Ereignis im russischen Erinnerungskalender avanciert. Seit den 2010ern gab es den Versuch, den größten Völkermord der Geschichte, den Holocaust, und eines der größten Kriegsverbrechen, die Leningrader Blockade, in einen diskursiven Zusammenhang zu bringen. Auch als Reaktion darauf, dass Russland von den westlichen Gedenkveranstaltungen und Erinnerungsdiskursen ausgeschlossen ist, gibt es nun aber eine Akzentverschiebung hin zum „Völkermord an den Völkern der Sowjetunion“ und noch weniger Aufmerksamkeit für die jüdischen Opfer des Holocausts. Dies ist eine Möglichkeit für die russischen Machthaber, die heldenhafte Erinnerung, die am zentralen Gedenktag des 9. Mai zelebriert wird, mit einer Opfererinnerung zu vervollständigen. Der 27. Januar ist für Russland insofern ein passender Gedenktag, denn am 27. Januar 1944 endete die fast 900 Tage andauernde Leningrader Blockade. Diese wird von Russland seit 2024 als Genozid bezeichnet und der Kreml fordert, dass Deutschland dies entsprechend anerkennt. Gegenwärtig wird die Blockade von deutscher Seite als Kriegsverbrechen eingeordnet. Durch die Anerkennung als Genozid erhofft sich der Kreml eine Entschädigung und wirft Deutschland auch noch einen widersprüchlichen Umgang mit der Geschichte vor: Während Verbrechen aus der Kolonialzeit als Völkermord anerkannt würden, würden Verbrechen gegen die Gesellschaften der ehemaligen Sowjetunion dies hingegen nicht.
Auch zum 80. Jahrestag sind russische Vertreter*innen zu den Gedenkfeierlichkeiten anlässlich der Befreiung von Auschwitz ausdrücklich nicht eingeladen. Wie hat Russland darauf reagiert?
In Anbetracht der Bedeutung, die dem 27. Januar nun in Russland beigelegt wird, reagierten russische Politiker*innen und die staatlichen Medien erbost, als das Land nicht zu den Feierlichkeiten eingeladen wurde. So unterstrich man 2023 in RIA, dass die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee ein Beleg für die Selbstlosigkeit der heutigen russischen Armee sei: „Schließlich haben wir Auschwitz nicht befreit, weil es zu unserem Vorteil war, sondern weil es die historische Mission unseres Volkes war, für Gerechtigkeit einzutreten.“ Im Moskauer „Siegesmuseum“ (offiziell Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges) versucht die Ausstellung „Auschwitz. Die Wahrheit“ mit Exponaten von Opfern auch „vom Heldentum der sowjetischen Soldaten, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben ließen“ zu erzählen.
In einer Abkehr der vorherrschenden Siegesnarrative der 90er und frühen 2000er ist eine Anerkennung des Beitrags der Alliierten Kräfte für den Sieg über den europäischen Faschismus mittlerweile nicht mehr Teil der jährlichen Festreden. In seiner Ansprache am 9. Mai 2015 nennt der russische Präsident die Alliierten noch mit Dank, im großen Kontrast dazu unterstreicht er am 9. Mai 2021, dass sein Volk „in der schwierigsten Zeit des Krieges, in den entscheidenden Schlachten […] allein auf dem schwierigen Weg zum Sieg war“. Diese Nationalisierung von Erinnerung hat in Russland, aber beispielsweise auch Belarus stattgefunden.