ZOiS Report 5/2024

Mit Russlandhintergrund in Deutschland: Ansichten zu Politik, Gesellschaft und Geschichte

Zusammenfassung

Menschen mit Russlandhintergrund in Deutschland sind in den letzten Jahren zunehmend in den öffentlichen und politischen Fokus gerückt. Ihr Wahlverhalten bei Bundestagswahlen hat Debatten darüber ausgelöst, warum Deutsche mit Russlandbezug verstärkt eine rechtspopulisische Partei unterstützen und inwiefern sie unter dem Einfluss russischer Propaganda stehen. Und spätestens seit Februar 2022 wird mit Misstrauen gefragt, wo die geopolitischen Loyalitäten der russischen Gemeinschaft liegen. Darüber hinaus sind Spaltungen innerhalb der russischen Gemeinschaft in Deutschland entstanden, die zwei grundlegend inkompatible Ansichten auf Russlands Rolle in globalen Konflikten widerspiegeln. Im Vergleich mit anderen Minderheiten sind Deutsche mit russischem Migrationshintergrund bisher relativ selten zu einem Thema in der Öffentlichkeit geworden. Dementsprechend gibt es nach wie vor wenige große Studien zu den politischen Ansichten dieser Bevölkerung. Dieser Report basiert auf einer 2024 durchgeführten Meinungsumfrage zu geschichtlichen, gesellschaftlichen und politischen Themen. Dabei wurden Menschen mit Russlandhintergrund sowie zum Vergleich Personen aus der allgemeinen deutschen Bevölkerung befragt. Die Studie widmet sich außerdem familiären Dynamiken bei der politischen Meinungsbildung, weshalb möglichst zwei Generationen einer Familie befragt wurden.

Die zentralen Ergebnisse der Studie lauten wie folgt:

  • Wahlberechtigte mit Russlandhintergrund nehmen deutlich seltener an Wahlen in Deutschland teil als die allgemeine Bevölkerung. Dadurch sind ihre Ansichten auch nur bedingt im deutschen politischen Prozess repräsentiert. Ihre politische Gesinnung unterscheidet sich von der deutschen Bevölkerung insgesamt durch eine höhere Unterstützung für das Bündnis Sahra Wagenknecht und die Alternative für Deutschland (AfD). Im deutlichen Gegensatz zur allgemeinen deutschen Vergleichsgruppe sind Befragte mit Russlandhintergrund häufiger der Meinung, dass nicht nur Russland an der Eskalation des Krieges gegen die Ukraine Schuld trägt und stimmen eher der Aussage zu, dass Russland in der internationalen Politik ein Gegengewicht zu westlichen Mächten bilden muss.
  • In gesellschaftlichen Belangen zeigen sich die Befragten mit Russlandhintergrund deutlich konservativer als die allgemeine deutsche Bevölkerung.
  • Bei der Vermittlung geschichtlichen Wissens spielt für Befragte mit Russlandhintergrund die Familie neben Büchern und Filmen eine wichtige Rolle. Die allgemeine deutsche Bevölkerung erachtet dagegen die Schulbildung als deutlich einflussreicher.
  • Divergenzen im Geschichtsverständnis sind immer wieder Teil politischer Spannungen zwischen Russland und Deutschland. Auf gesellschaftlicher Ebene zeigen sich Spuren dieser Kluft in großen Unterschieden im geschichtlichen Wissen zwischen der allgemeinen deutschen Bevölkerung und Menschen mit Russlandhintergrund.
  • Die Zeit in der Sowjetunion nach Stalins Tod wird von Befragten mit Russlandhintergrund in der Mehrheit negativ bewertet. Insbesondere wird diese Epoche mit fehlenden politischen Freiheiten sowie wirtschaftlichen Einschränkungen in Verbindung gebracht. Gleichzeitig gibt es eine Gruppe von etwa einem Fünftel der Befragten mit russischem Hintergrund, die ausschließlich positive Aspekte mit den Jahren nach 1953 assoziieren.
  • Verbindungen ins familiäre Heimatland sind bei den Befragten mit russischem Migrationshintergrund nicht der Regelfall. Knapp ein Drittel der Stichprobe hat noch Verbindungen zu Familienmitgliedern und Freund*innen in Russland. Die Generation der Kinder hat deutlich weniger solcher Verbindungen. Reisen nach Russland sind unter Jung und Alt selten.
  • Russischsprachige Netzwerke in Deutschland sind für Befragte wichtig, um sich über private und gesellschaftliche Themen auszutauschen. Dabei gibt es jedoch klare Unterschiede zwischen den Generationen. Während die ältere Generation russischsprachige Gesprächspartner*innen besonders für private und politische Gespräche schätzt, misst die jüngere Generation ihnen weniger Bedeutung bei.

Authors

Leitung Forschungsschwerpunkt
Jugend und generationeller Wandel
Ombudsperson für die Wissenschaft

Das Projekt MoveMeRU wird vom Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms “Horizont Europa” der Europäischen Union unter der Vertragsnummer 101042339 gefördert. Es startete zum 01.09.2022.