Ethisch forschen in Kriegszeiten: Wissenschaft trägt Verantwortung
Die Verantwortung der Wissenschaft, angesichts von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine faktenbasierte Einordnungen zu liefern, ist groß. Gleichzeitig ist die ethische Herausforderung gewachsen, keinen Schaden für die Beteiligten anzurichten. ZOiS-Forscherinnen sehen Bedarf für mehr Dialog und Ressourcen.
Seit der russischen Invasion der Ukraine 2022 ist das öffentliche Interesse an der Osteuropa-Forschung gestiegen. Doch wie ist Forschung zu Politik und Gesellschaft im Krieg überhaupt möglich? Nina Frieß und Katrin Hoffmann, Mitarbeiterinnen des ZOiS und Mitglieder der Ethikkommission am ZOiS zeigen in einem aktuellen ZOiS Report, welchen neuen Herausforderungen Wissenschaftler*innen ausgesetzt sind, geben Einblicke in die Praxis der Forschungsethik am ZOiS, machen Lösungsvorschläge und regen zur fortwährenden Reflexion ethischen Handelns in den Geistes- und Sozialwissenschaften an.
Forschung zu und in der Ukraine: Noch mehr Sensibilität unter erschwerten Bedingungen
In der Ukraine haben Wissenschaftler*innen viel zu bedenken: während der russischen Angriffe sich und andere nicht gefährden, die Zeit und Aufmerksamkeit der Forschungsteilnehmer*innen nicht über Gebühr zu beanspruchen, re-traumatisierende Fragen vermeiden. Ganz praktische, für Außenstehende leicht zu übersehende Überlegungen, wie die Einberechnung von Akkulaufzeiten während Stromengpässen gehört nun ebenfalls zu verantwortungsbewusster Forschung.
Tetiana Skrypchenko, Soziologin aus der Ukraine und ZOiS-Gastwissenschaftlerin schildert im Report, wie wichtig die Fortsetzung des Wissenschaftsbetriebs während des Krieges dennoch ist: „Die ersten Studien gaben den Menschen die Möglichkeit, ihre Gedanken zu äußern, lieferten der ukrainischen Wissenschaft wichtige Analysedaten, stärkten die Moral und den Zusammenhalt der Gesellschaft und der Streitkräfte und gaben unserem Team ein Gefühl von Sinnhaftigkeit und Stabilität.“
Forschung zu Russland: Selbst im Exil riskant
Forschungsaufenthalte in Russland sind für Mitarbeiter*innen des ZOiS, das den Angriffskrieg klar verurteilt hat, momentan unmöglich. Die Einstufung des ZOiS als „unerwünschte Organisation“ durch die russische Generalstaatsanwaltschaft schränkt die Zusammenarbeit mit russischen Staatsangehörigen massiv ein. ZOiS-Wissenschaftler*innen versuchen deshalb, ihre Forschung zu Russland auf andere Weise fortzusetzen, etwa indem sie sich auf Migrant*innen aus Russland konzentrieren. ZOiS-Forscherinnen Tsypylma Darieva und Tatiana Golova geben dabei zu bedenken: „Verfolgung endet nicht an der russischen Staatsgrenze: Transnationale Repression und die Angst davor nehmen insbesondere in Ländern des postsowjetischen Raums zu.“ Der sensible Umgang mit personenbezogenen Daten steht hier besonders im Vordergrund, kollidiert aber stellenweise mit Anforderungen von Ethikkommissionen nach schriftlicher Einwilligung der Forschungsteilnehmer*innen.
Wissenschaft in der Öffentlichkeit: Wenn objektive Erkenntnisse politisiert werden
In Krisensituationen sind Wissenschaftler*innen als Expert*innen gefragt. Die Vermittlung ihres Wissens bedarf Fingerspitzengefühls, da Forschungsergebnisse zu heftigen Kontroversen führen und sogar instrumentalisiert werden können.
Die Komplexität sozialwissenschaftlicher Themen findet nicht in allen medialen Formaten Platz und steht lautstark geäußerten, aber weniger fundierten Meinungen gegenüber. Manche Forscher*innen schrecken deshalb davor zurück, Stellung zu beziehen. „Wissenschaft als per se unpolitisch darzustellen greift zu kurz. Idealerweise beteiligen sich Wissenschaftler*innen in Krisensituationen am öffentlichen Diskurs, reflektieren über die unterschiedlichen Räume, in denen sie kommunizieren, und thematisieren dabei offen, in welcher Kapazität und auf welcher Grundlage sie Stellung beziehen“, äußert sich Gwendolyn Sasse, die wissenschaftliche Direktorin des ZOiS, im Report.
Forschungspläne und Budgets verantwortungsbewusst gestalten
Gerade in einer Zeit, in der demokratische Werte und Haltungen bedroht sind, ist wissenschaftlicher Sachverstand gefragt. Dabei gilt es, einen Ausgleich zwischen ethischen Anforderungen und der Forschungspraxis unter sich ständig verändernden, schwierigen Bedingungen zu finden. Die Autorinnen des Reports machen auf den Bedarf an zeitlichen, personelle und materiellen Ressourcen aufmerksam. Institutionen sind dabei gefragt, den dafür notwendigen Rahmen zu schaffen. Auch die Politiker*innen und Förderorganisationen, die budgetäre Bedingungen für die Forschungsprojekte festlegen, sollten sich dieser hohen Anforderungen bewusst sein.
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