Russische Jugend teilt offizielles Weltkriegsnarrativ, kritisiert aber pompöse Siegesfeiern
Die Militärparade zum Tag des Sieges ist ein wichtiger Bestandteil der russischen Erinnerungspolitik. Wegen der Coronakrise müssen die Feierlichkeiten 75 Jahre nach Kriegsende wahrscheinlich verschoben werden. Ein neuer ZOiS Report untersucht die Einstellungen junger Menschen in Russland zum Zweiten Weltkrieg. Der sowjetische Sieg ist ein wichtiger historischer Bezugspunkt für junge Menschen, viele von Ihnen betrachten die heutigen Siegesfeiern jedoch als unangemessen und würden ein persönlicheres Gedenken bevorzugen.
Unter Wladimir Putin wurden historische Narrative zu einem zentralen Bestandteil der Bemühungen des Kremls, die Identität von Russinnen und Russen im In- und Ausland zu formen. Félix Krawatzek und Nina Frieß haben untersucht, was der Zweite Weltkrieg für junge Menschen in Russland bedeutet und wie ihnen der Krieg präsentiert wird, vor allem in Literatur und Film: „Während eine einseitige Interpretation des Zweiten Weltkriegs zentral für die russische patriotische Erziehung und in Geschichtsbüchern ist, finden sich in der Literatur kritischere Beschreibungen. Neuere, staatlich geförderte Filme neigen dazu, sowjetische Darstellungsweisen aufzugreifen und auf Emotionen zu setzen“, fassen die Slawistin Frieß und der Politikwissenschaftler Krawatzek zusammen.
Vereint gegen den äußeren Feind
In Übereinstimmung mit dem offiziellen Narrativ konzentriert sich die Wahrnehmung junger Menschen auf den heroischen Sieg und die Stärke der Sowjetmacht, wobei die Opfer und Gewalt des Krieges, die in literarischen und filmischen Kriegserzählungen präsent sind, in den Hintergrund treten. Ein wichtiges Motiv in kulturellen Darstellungen, politischen Narrativen wie auch in der Wahrnehmung junger Menschen ist die nationale und sozialen Einheit. „Die russische Jugend sehnt sich nach sozialem Zusammenhalt. Viele assoziieren diesen mit der Sowjetunion. Gleichzeitig steht der vereinte Kampf der Sowjetvölker gegen einen gemeinsamen Feind im Gegensatz zur heutigen geopolitischen Situation“, beobachten die Autor*innen der Studie.
Ein zentraler historischer Jahrestag
Die Unzufriedenheit mit den heutigen Gedenkveranstaltungen geht quer durch politische Einstellungen. „Es gibt eine breite Übereinstimmung darüber, dass es wichtig ist, die Erinnerung an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, doch viele würden persönlichere Formen des Gedenkens bevorzugen. Es herrscht die Einschätzung vor, dass die heutigen Feierlichkeiten unangemessen sind. Sie wurden als ‚Show‘, zu dramatisiert und losgelöst von der Bevölkerung beschrieben“, berichtet Félix Krawatzek.
Stalin als kontroverse Figur
Die Befragten erwähnten Stalin oder die Gewalttaten des Stalinismus im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg kaum. Diese Einstellung passt zur russischen Unterrichtspraxis, der Betonung des militärischen Heroismus und dem politischen Diskurs, der sich auf die ökonomischen Errungenschaften nach dem Krieg konzentriert. (Fig.1) „Der Blick auf Stalin und auf die Gewalt gegen die Bevölkerung ist besonders umstritten. Obwohl junge Menschen sich der stalinistischen Repressionen im Allgemeinen bewusst sind, unterscheiden sich ihre Einschätzungen dieser Epoche stark voneinander. Die Information in Literatur, Ausstellungen und Filmen sind öffentlich zugänglich, erreichen die jungen Leute jedoch nur in begrenztem Maß,“ schlussfolgert Nina Frieß.
Die Studie basiert auf zwei Quellen: zum einen einer Reihe von Online-Umfragen unter jungen Menschen in Russlands größeren Städten, flankiert von Fokusgruppen-Interviews; zum anderen einem Kanon populärer historischer Literatur und Filme, die sich auch an ein jüngeres Publikum richten. Die Querschnittsumfragen unter jungen Leuten im Alter von 16 – 34 wurden im April 2018 und 2019 durchgeführt. Die Fokusgruppen-Interviews fanden in Jekaterinburg und St. Petersburg im Juni 2019 statt.