Wie Russ*innen in Armenien und Georgien den Krieg sehen
Ein neuer ZOiS Report präsentiert die Ergebnisse einer Umfrage unter russischen Migrant*innen in Georgien und Armenien. Eine überwältigende Mehrheit der Befragten sprach sich gegen Wladimir Putin aus und schrieb die Verantwortung für den Krieg gegen die Ukraine Russland zu. Die Daten weisen darauf hin, dass die Befragten bereits vor der Ausreise politisch aktiver waren als die russische Bevölkerung insgesamt.
Im Jahr 2022, als Moskau den Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine begann, verließ eine große Zahl vor allem junger Menschen Russland. Aufgrund der visumsfreien Einreise und der geografischen Nähe gehörten Armenien und Georgien zu den beliebtesten Zielen. Um mehr über die russischen Migrant*innen und ihre Einstellungen zu erfahren, führte ein Team von Forschenden des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), der Princeton University und der Harvard University Ende 2022 in diesen Ländern eine persönliche Umfrage unter insgesamt mehr als 1600 Personen durch. Mehr als 90 % von ihnen waren nach dem Januar 2022 eingereist, mit Spitzen im März (Armenien) und September (Armenien und Georgien) (Abb. 1). Obwohl es sich nicht um eine reine Zufalls-Stichprobe handelt und sie daher nicht die Erfahrungen und Einstellungen der Gesamtheit aller russischen Neuankömmlinge in Armenien und Georgien widerspiegelt, lassen die Ergebnisse wichtige Muster sowohl innerhalb des jeweiligen Landes als auch länderübergreifend erkennen.
Die Befragten sind jünger als die russische Gesamtbevölkerung und insgesamt besser ausgebildet als die Russ*innen ihrer Altersgruppe. Über 80 % kommen aus Großstädten mit mehr als einer Million Einwohner*innen. In Übereinstimmung mit zahlreichen Medienberichten war ein beträchtlicher Anteil der Befragten in beiden Ländern im IT-Bereich beschäftigt: 27 % in Georgien und 37 % in Armenien. Die Umfrage zeigte auch, dass die Befragten in Georgien und Armenien im Vergleich zur russischen Gesamtbevölkerung wesentlich liberalere soziale Einstellungen haben.
Negative Einstellungen zu russischen Institutionen
Die Befragten ordnen die Verantwortung für den Krieg eindeutig den russischen Behörden zu. In Armenien geben drei Viertel der Befragten russischen Behörden die Schuld, in Georgien liegt die Anzahl bei zwei Dritteln (Abb. 2). Die Befragten in Georgien verfolgen den weiteren Verlauf des Krieges genauer: Mehr als die Hälfte gab an, den Krieg „sehr genau“ zu verfolgen, verglichen mit etwas mehr als 40 % in Armenien. Die Ansichten der Migrant*innen zu russischen Institutionen sind ausgesprochen negativ, insbesondere bei den Befragten in Armenien. Im Gegensatz dazu bewerteten 66% der Befragten in Armenien und 46% in Georgien den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj positiv. Ihre Einstellungen zur NATO, der EU und westlichen Medien sind ebenfalls größtenteils positiv, allerdings wich ein beträchtlicher Anteil der Befragten dieser Frage aus und entschied sich, keine Bewertung abzugeben.
Armenien: Befragte jünger und politischer
Die in Armenien befragten Russ*innen waren vor ihrer Auswanderung politisch aktiver, sowohl in Bezug auf Nachrichtenkonsum als auch auf die Teilnahme an politischen oder zivilgesellschaftlichen Aktivitäten wie ehrenamtliches Engagement, Spenden an Nichtregierungsorganisationen oder das Organisieren von Kulturveranstaltungen. Befragte in Armenien berichteten außerdem häufiger, an Protestveranstaltungen gegen den Krieg in der Ukraine teilgenommen zu haben, während sie noch in Russland lebten (25 % in Armenien gegenüber 11 % in Georgien, Abb. 3). Allerdings engagieren sich die Befragten in beiden Ländern nur selten ehrenamtlich oder nehmen an Protesten teil, die nicht mit dem Krieg in der Ukraine zusammenhängen.
Die politischen Konsequenzen der jüngsten Abwanderung aus Russland bleiben ungewiss. ZOiS-Forscher Félix Krawatzek merkt an: „Einerseits hat das russische Regime einige seiner lautstärksten Kritiker*innen exiliert, andererseits könnten das vergleichsweise liberale Umfeld in den Gastländern den Exilant*innen die Möglichkeit verschaffen, sich untereinander zu vernetzen und das Putin-Regime vor eine Herausforderung zu stellen.“
Das Projekt wurde mit finanzieller Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung, des Harvard Ukrainian Research Institute (HURI), des Davis Centre for Russian and Eurasian Studies in Harvard und des Minda de Gunzburg Centre for European Studies in Harvard umgesetzt.