Belarus‘ erhöhte Krisenanfälligkeit
Die Situation war schon bevor die Corona-Krise Europa traf nicht leicht für Belarus. Das Land hatte mit sozioökonomischen Problemen, gesellschaftlicher Unzufriedenheit und andauernden Spannungen mit seinem wichtigsten Wirtschaftspartner und brüderlichem Nachbarn Russland zu kämpfen. Durch die aktuelle Krise haben sich viele dieser Probleme verstärkt. Die Zukunftsaussichten für Belarus erscheinen nun noch trüber, insbesondere da die Konsequenzen der Pandemie noch nicht abzusehen sind.
Seit seinem Machtantritt 1994 hat der belarussische Präsident Aljaksandr Lukaschenka durch eine Umverteilungspolitik für Stabilität im Land gesorgt. Sie zielte darauf ab, wirtschaftliche Profite allen Schichten der Gesellschaft zugutekommen zu lassen. Dieses „belarussische Modell“ kann als eine Art Gesellschaftsvertrag zwischen dem Staat und verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verstanden werden, zu denen insbesondere ausgewählte Beamt*innen und Staatsangestellte des Landes zählen. Es basierte auf einem System des stillschweigenden Einverständnisses der Öffentlichkeit mit den Entscheidungen der staatlichen Behörden, die gewisse Rechte erhielten, dafür aber soziale Sicherheit garantierten. Diese Übereinkunft beruhte zu einem großen Teil auf dem Versprechen, heute für Stabilität und morgen für eine bessere Zukunft zu sorgen. Vor dem Hintergrund der strauchelnden belarussischen Wirtschaft werden die staatlichen Zuwendungen, wie sie insbesondere im Vorfeld von Wahlen Tradition haben, 2020 jedoch ausbleiben.
Wirtschaftliche Worst-Case-Szenarien treffen aufeinander
Der belarussische Außenhandel und die Exporte weisen bereits jetzt einen negativen Trend auf und das Haushaltsdefizit steigt. Zugleich fallen die internationalen Ölpreise. Das stellt jedoch nicht das Hauptproblem dar. Belarus erzielt seine Gewinne im Energiesektor, indem es subventionierte Rohstoffe aus Russland importiert und weiterverarbeitete Güter exportiert. Allerdings werden fallende Erdöl- und Gaspreise wohl mit einem Wertverlust des russischen Rubels einhergehen, an den der belarussische Rubel gebunden ist. Doch gerade für seine Exporte ist Belarus auf eine stabile Währung angewiesen.
Belarus hat sich über mehrere Monate hinweg geweigert, Erdöl von großen russischen Unternehmen zu kaufen, die bei langfristigen Verträgen einen Aufschlag auf den Ölpreis verlangen. Das hat in den ersten zwei Monaten 2020 zu einem Rückgang russischer Lieferungen um 76 Prozent geführt. Exporte von belarussischem Erdöl und -gas sind in der Folge stark gesunken, von 1 Million Tonnen im Januar 2019 auf 305.900 Tonnen im Januar 2020. Das Land hat seine Versorgung erfolgreich durch Importe von anderen Anbietern gesichert, aber zu Preisen, die deutlich weniger konkurrenzfähig sind als die russischen.
Beziehungen zu Russland erreichen einen Tiefpunkt
Trotz der momentanen Uneinigkeiten über Lieferbedingungen bleibt Russland der wichtigste Handelspartner für Belarus. In der Vergangenheit konnten solche Konflikte meist aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeit beider Länder gelöst werden. Seit Dezember 2018 verhandeln Russland und Belarus zudem über eine noch engere Integration. Nun haben die bilateralen Beziehungen einen historischen Tiefpunkt erreicht. Am 5. März 2020 verkündete der belarussische Außenminister Uladzimir Makej, dass weitere Integrationsgespräche mit Moskau keinen Sinn ergäben, bevor nicht eine Vereinbarung über die Öllieferungen aus Russland ausgearbeitet worden sei.
Lukaschenka genoss lange Zeit einen erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung, der nun aber schwindet. Trotz Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und einer hohen finanziellen Abhängigkeit der Menschen vom Staat gab es in den letzten Jahren in Minsk und auch abseits der Hauptstadt immer öfter verhaltene soziale und politische Proteste. Die letzte Protestwelle fand im Dezember 2019 statt und richtete sich gegen eine mögliche erneuerte Vereinbarung zum Unionsstaat mit Russland und gegen die Geheimhaltung der Verhandlungen. Eine ZOiS-Umfrage ergab kürzlich, dass fast die Hälfte der jungen Menschen dem Präsidenten wenig oder gar nicht vertrauen. Dem Parlament des Landes misstrauten mehr als 60 Prozent der Befragten.
Belarus Umgang mit der Corona-Krise
Auch der Umgang der belarussischen Behörden mit der Coronavirus-Pandemie wurde von gesellschaftlicher Seite heftig kritisiert. Die Opposition behauptet, dass zahlreiche Menschen das Vertrauen in die amtlichen Informationen verloren hätten. Hinsichtlich präventiver Maßnahmen handelt Belarus weiterhin weniger proaktiv als andere Länder in der Region. Kindergärten und Schulen sind immer noch geöffnet und die Spiele der nationalen Fußballliga finden weiterhin statt. Etwa 16.000 Menschen haben eine Onlinepetition unterzeichnet, in der das belarussische Gesundheitsministerium aufgefordert wird, Quarantänemaßnahmen für alle Bildungseinrichtungen zu erlassen.
Währenddessen erklärte Lukaschenka gegenüber der Öffentlichkeit, dass die globale Panik „nur eine weitere Psychose ist, die irgendjemandem in die Hände spielt, und zur gleichen Zeit Anderen schaden wird“. Russland hat im Gegensatz dazu drastische Maßnahmen ergriffen und am 16. März unilateral seine Grenzen mit Belarus geschlossen.
Belarus benötigt dringend umfassende Strukturreformen, um seine Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur zu diversifizieren, die öffentliche Verwaltung zu modernisieren, und den Pool externer Handelspartner auszubauen. Diese Reformen werden dieses Jahr aufgrund der Corona-Krise und der anstehenden Präsidentschaftswahlen, die bis spätestens Ende August durchgeführt werden sollen, erneut nicht in Angriff genommen werden. Angesichts dessen sind die Aussichten des Landes, sich wirtschaftlich zu erholen, düster, und es besteht wenig Hoffnung, dass auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingegangen wird. Maßnahmen, die notwendig wären, um einen drohenden wirtschaftlichen Kollaps zu verhindern, sind aufgrund der Coronavirus-Pandemie weit davon entfernt, umgesetzt zu werden. Die staatlichen Rücklagen werden nicht ausreichen, um soziale und wirtschaftliche Gruppen durch größere Geldzuwendungen zu stützen, wie es andere europäische Länder tun.
Noch schlimmer ist, dass Belarus gegenüber äußeren Schocks extrem vulnerabel geworden ist. Obwohl es nicht so stark mit der Weltwirtschaft verflochten ist wie andere Länder, bleibt es von seinem großen Nachbarn und dessen Markt abhängig. Russland, das selbst überlastet ist, wird weder fähig noch gewillt sein, die belarussische Wirtschaft weiterhin zu stützen. Zu einem gewissen Grad bleibt Belarus nun sich selbst überlassen und kann sich nicht mehr auf äußere Unterstützung verlassen, um das „belarussische Modell“ weiter aufrechtzuerhalten.
Nadja Douglas ist Politikwissenschaftlerin und forscht am ZOiS, wo sie das Projekt „Gesellschaftliche Initiativen und staatliche Politik – ein postsowjetischer Vergleich“ koordiniert.