„Kritische Stimmen beteiligen sich zu wenig am öffentlichen Diskurs“
In ihrer Dissertation „Inwiefern ist das heute interessant?“ widmet Nina Frieß sich aktuellen Formen des Erinnerns an die stalinistischen Repressionen, insbesondere an die als Gulag bezeichneten Arbeitslager in der Sowjetunion. Dafür hat sie unter anderem drei Produktionen untersucht, die auf Klassikern der Lagerliteratur basieren: die 2007 auf dem zweitgrößten russischen Fernsehsender ausgestrahlte Serie „Das Erbe Lenins“, die das Leben und Werk Varlam Šalamovs erzählt, die 2009 uraufgeführte Oper „Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič“ auf Grundlage der gleichnamigen Povest von Alexander Solženicyn, und den internationalen Spielfilm „Within the Whirlwind“ aus dem Jahr 2009, der auf den Memoiren von Evgenija Ginzburg basiert. Alle drei Autor*innen haben viele Jahre in Arbeitslagern verbracht und ihre Erfahrungen in unterschiedlichen Texten verarbeitet, die heute den Kanon der Lagerliteratur bilden. [1]
Was interessiert Sie an der russischen Erinnerungskultur?
Ich habe 2007 bei Perm-36, einer Nichtregierungsorganisation im Ural in Russland, ein dreimonatiges Praktikum gemacht. Perm-36 betrieb damals das einzige Gulag-Museum auf dem Territorium eines ehemaligen Arbeitslagers. Da kam für mich der Wunsch auf, mich wissenschaftlich damit zu beschäftigen, wie man sich in Russland mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzt.
Kann man in Russland überhaupt von einer einheitlichen Erinnerungskultur sprechen?
Nein, ich würde sogar sagen, dass sich die russische Erinnerungskultur durch ihre enorme Fragmentierung auszeichnet. Zugespitzt könnte man konstatieren: Jeder erinnert, was er will, und nur ein Bruchteil der Bevölkerung hat Interesse daran, die dunklen Seiten der Vergangenheit zu erinnern, also beispielweise das, was unter der Herrschaft Stalins von 1927 bis 1953 passiert ist. In dieser Zeit durchliefen etwa 20 Millionen Bürger*innen die sowjetischen Arbeitslager; viele sind gestorben. Der Großteil der Bevölkerung ist eher bereit, das Positive der russischen und sowjetischen Geschichte zu erinnern, vielleicht auch animiert durch die Regierung.
Wie beeinflusst die Regierung unter Präsident Vladimir Putin das heutige Geschichtsbild?
Das ist bei Putin nicht ganz so eindeutig, wie man zunächst annehmen würde. Es gab Reden, in denen er an die Menschen erinnert hat, die in der Stalinzeit gestorben sind und die unter der Diktatur gelitten haben. Auf der anderen Seite sagt er: „Aber in anderen Ländern ist es noch viel schlimmer gewesen“, und betont, wie viele großartige Seiten die russische Geschichte habe und dass die schlimmen Ereignisse auch im Kontext der Zeit gesehen werden müssten. Von der gesamten russischen Elite wird vorangetrieben, das Positive in den Köpfen vor allem junger Russen*innen zu verankern. Aber zumindest bis vor ein paar Jahren, bis zum Ende der zweiten Amtszeit Putins und dann unter Dimitrij Medvedev, gab es eine relativ liberale Übergangsperiode, in der durchaus der Gräuel der Geschichte gedacht wurde. Die Artefakte, die ich in meiner Dissertation untersuche, sind in dieser Zeit entstanden, und es handelt sich dabei nicht nur um Independent-Produktionen, sondern sie liefen teilweise im russischen Staatsfernsehen oder auf Staatsbühnen.
Wie wurden diese Produktionen von der russischen Gesellschaft aufgenommen?
Die TV-Serie „Das Erbe Lenins“ hat sicherlich den größten Personenkreis erreicht und sie stellt die Dinge tatsächlich sehr drastisch dar. Sie zeigt Gewalt, Tote und das Leiden der Häftlinge durch die Augen des Protagonisten Varlam Šalamov. In den Feuilletons wurde die Serie sehr gelobt. Es wurde betont, dass es notwendig sei, sich mit dieser Seite der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Aber diese Diskussion hat keine größeren Kreise in der Gesellschaft gezogen. Und das ist symptomatisch für Russland. Auch die Oper „Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič“ hat keine nennenswerten Reaktionen in der Bevölkerung hervorgerufen. Obwohl sie landesweit in allen Tageszeitungen und in den Hauptnachrichtensendungen im Fernsehen Thema war, kam es zu keinem Umdenken in der Erinnerungskultur. Der Film „Within the Whirlwind“, eine deutsch-belgisch-polnische Koproduktion, kam interessanterweise beim russischen Publikum sehr gut an. Man muss sagen, er reduziert Ginzburgs Biografie darauf, dass eine Frau den Gulag durch die Liebe ihres Lebens überwindet. Entgegen der einheitlich negativen Kritik westlicher Länder, wo der Film als „Lagerschnulze“ verschrien wurde, war in Russland der Tenor, der Film sei authentisch und man bräuchte mehr Filme dieser Art. Diskutiert haben darüber aber natürlich auch nur wenige Enthusiast*innen in Filmforen.
Wie sind diese Reaktionen zu erklären?
Viele Menschen suchen gezielt nach dieser Art der Darstellung. Kritische Stimmen beteiligen sich zu wenig am öffentlichen Diskurs. Als Anfang der 90er Jahre die ersten Archive geöffnet wurden und Informationen über das Ausmaß der Unterdrückung an die Öffentlichkeit gelangten, war das Interesse an der Vergangenheit sehr groß und das Thema in den Medien präsent. Aber durch den Zusammenbruch der Sowjetunion war man dann zunehmend mit anderen Dingen beschäftigt. In der Bevölkerung ging es ums tägliche Überleben. Damit war der Moment verpasst, eine umfassende Erinnerungskultur zu etablieren. Mit dem holprigen Machtwechsel von Medvedev zu Putin hat man dann die Stellschrauben angezogen und um Zuge dessen auch versucht, die unliebsame Gedächtnisarbeit einzudämmen. Perm-36 musste seine politische Arbeit einstellen, das Museum wurde vom Staat übernommen. Dadurch wird natürlich eine ganz andere Ausstellung gezeigt. Das ist ein Signal dafür, dass das, was zwischen 2007 und 2013 möglich war, heute nicht mehr in diesem Ausmaß möglich wäre. Und einen Großteil der russischen Gesellschaft interessiert das heute überhaupt nicht mehr.
Das Gespräch führte Yvonne Troll, Kommunikationskoordinatorin des ZOiS.
[1] Neben diesen drei Hauptwerken hat Nina Frieß den 2011 veröffentlichten Roman „Der Himmel auf ihren Schultern“ von Sergei Lebedew sowie eine Reihe von Kriminalromanen angelsächsischer Autor*innen, die in der Sowjetunion der Stalinzeit spielen, untersucht.
Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Nina Frieß arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS. Ihr Projekt "Literatur und Macht im postsowjetischen Raum" beschäftigt sich mit der Rolle russischer und russischsprachiger Literatur in ausgewählten Nachfolgestaaten sowjetischer Republiken. Die Dissertation, aus dem ihr Buch „Inwiefern ist das heute interessant?“ hervorging, wurde mit dem Klaus-Mehnert-Preis der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde ausgezeichnet.
Frieß, Nina: "Inwiefern ist das heute interessant?" Erinnerungen an den stalinistischen Gulag im 21. Jahrhundert. Leipzig, Biblion Media 2016.