Puschkin ist schuld - Politisierte Literatur und politisierte Literaten in Russland
Im März 2017 stellte der Autor Sachar Prilepin sein neues Buch „Der Zug. Offiziere und Landsturmleute der russischen Literatur“ vor. In dem non-fiction-Werk präsentiert er elf Biografien von russischen Schriftstellern des späten 18., frühen 19. Jahrhunderts, von Derschawin über Tschaadajew bis hin zu Puschkin, die, wie es in der Buchbeschreibung heißt, „nicht nur die Feder zu führen vermochten, sondern auch eine Waffe.“ Prilepin gibt an, mit dem Buch der vor allem von „den Usurpatoren des russischen Schrifttums“ verbreiteten Meinung entgegentreten zu wollen, dass der russische Schriftsteller ein „Unschuldslamm auf dünnen Beinchen, der ewig über Kindertränchen […] spreche“ sei. Vielmehr habe es in der russischen Geschichte immer wieder große Schriftsteller gegeben, die bereit waren, tatkräftig für ihr Land einzustehen und in den Krieg zu ziehen, so der Autor. In dieser Tradition sieht sich auch Prilepin: Etwa zeitgleich mit der Buchvorstellung wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, dass der Schriftsteller seit Herbst 2016 Major in einem Freiwilligenbataillon in der sogenannten Donezker Volksrepublik ist. Wenn man ihn fragt, was ihn dazu gebracht habe, sich den Kämpfern anzuschließen, dann „antworte ich ganz ernsthaft: Puschkin.“
Prilepins Buch, so vermutet eine Kritikerin, solle nun auch andere dazu animieren, es ihm gleich zu tun. Dass sich die Zeiten seit dem Einsatz der „Spezialkräfte der russischen Literatur“ verändert haben und die kämpfenden Literaten vielfach in Opposition zum russischen Staat standen, ist für Prilepin kein Einwand. Wenn es darauf angekommen sei, so der Autor, hätten sie zu ihrem Land gestanden, allein das zähle. In einer Pressekonferenz der TASS zeigt er sich überzeugt, dass Alexander Puschkin heute auf der Seite seines Bataillons stünde.
Das Militärische zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben des 41-Jährigen: Neben seinem literaturwissenschaftlichen Studium absolvierte er eine Ausbildung bei OMON, der russischen Bereitschaftspolizei für besondere Einsätze, zwischen 1996 und 1999 war er im Tschetschenien- und Dagestankrieg im Einsatz. In seinem Debütroman „Pathologie“ (2005) verarbeitet er seine Kriegserfahrungen zu einer dichten Prosa über den Kriegsalltag, in dem Nachfolgeroman „Sankya“ (2006) thematisiert er den Kampf einer systemkritischen Bewegung gegen den russischen Staat. Als reales Vorbild für die portraitierte Organisation lässt sich unschwer die (niemals offiziell als Partei registrierte) Nationalbolschewistische Partei Eduard Limonows erkennen, deren Mitglied Prilepin bis zu ihrem Verbot 2007 war. Viele der extremistisch-nationalistischen Positionen dieser Bewegung sind inzwischen allerdings im Mainstream der russischen Politik angekommen und so verwundert es nicht, dass sich Prilepin einer ausführlichen Berichterstattung in den russischen Medien erfreuen darf.
Prilepin betont, dass er aus seinem Einsatz „zum Wohl des Volkes des Donbass‘“ nie ein Geheimnis gemacht habe. In der Tat unterstützt der Autor die prorussischen Separatisten bereits seit 2014 und dokumentiert sein Engagement im Donbass – etwa die Verteilung von Medikamenten und Lebensmitteln – in seinem Blog. Zudem war er als Kriegsberichterstatter vor Ort unterwegs. Auch seinen eigenen militärischen Einsatz hält er auf Fotos und Videos fest, die er regelmäßig postet. Eine Reportage der auflagenstärksten russischen Tageszeitung Komsomolskaja Prawda, für die der Reporter Prilepin im Donbass begleitete, sowie die Berichterstattung rund um die Publikation von „Der Zug“, brachte dieses Engagement einem breiteren Publikum näher.
Das Verhältnis von Literatur und Macht ist in Russland traditionell ein vielschichtiges: Da ist zum einen die Macht der Literatur selbst, also der Einfluss, der in Russland der Literatur zugeschrieben wird. Immer wieder sind Schriftsteller als Kritiker und Mahner aufgetreten, haben Texte gesellschaftliche Debatten ausgelöst und politische Umbrüche begleitet. Zum anderen gibt es in Russland auch eine Tradition der Literatur, die sich in den Dienst der Macht stellt. Neben der Panegyrik, die dem Ersten unter den Mächtigen huldigt, ob er nun Zar, Generalsekretär oder Präsident ist, gehört dazu eine Literatur, die die Linie der herrschenden Politik literarisch unterstützt. Die Regimetreue der Schriftsteller wurde von den Machthabenden mit finanziellen Zuwendungen, Privilegien wie dem Zugang zu Datschen oder speziellen Restaurants und hohen Auflagezahlen belohnt. Dieses staatliche System der Literaturförderung verschwand mit dem Ende der Sowjetunion. Heute ist es vor allem der Markt, der über den Erfolg eines Autors entscheidet, was nicht heißt, dass Literatur und Macht keine Verbindung mehr eingehen. Prilepin nutzt seine Popularität als Schriftsteller, um seine Positionen publik zu machen. Dass diese gegenwärtig in vielerlei Hinsicht mit den Interessen der politischen Eliten Russlands übereinstimmen, verspricht ihm zusätzliche mediale Aufmerksamkeit – und damit hohe Verkaufszahlen. Für Literat wie Macht eine win-win-Situation.
Unwidersprochen blieben Prilepins Ausführungen allerdings nicht. Wladimir Sorokin, einer der international bekanntesten Autoren der russischen Gegenwartsliteratur, wies in einem Interview mit der russischen Zeitung Kommersant unlängst darauf hin, dass „viele der [russischen] Literaten des 19. Jahrhunderts nicht freiwillig im Krieg“ gewesen seien. Für ihn sei durch dieses Argument „das primitive Ideechen“ Prilepins entkräftet. Gerade einmal drei Sätze widmete Sorokin diesem Thema, bevor er sich wieder dem zeitgenössischen Roman zuwandte.1 Es dauerte nur wenige Stunden, bis Prilepin darauf eine Replik veröffentlichte und Sorokin entschieden widersprach. „Frieden“, so schreibt er, sei „keine Gabe“, „Frieden“, das sei „Arbeit und Dienst.“ Er selbst sei für den Frieden, wofür die anderen seien, wisse er nicht. „Ja, und es ist mir auch ganz egal.“ Wie sich Prilepins Einsatz für den Frieden gestaltet, konnte man in einem kürzlich von ihm geposteten Video sehen. In diesem hält der in Tarnfleck gekleidete Autor ein Blatt Papier mit einem Peace-Zeichen in die Kamera, leiert ein Sprüchlein herunter („Alle Schriftsteller der Welt traten immer für den Frieden ein. […] Auch ich trete für den Frieden ein.“) und fragt seinen Kameramann, ob alles aufgenommen sei. Als dieser bejaht, knüllt er das Papier zusammen und gibt einen Befehl – woraufhin im Hintergrund das Feuer eröffnet wird. Selbstverständlich ist das Ganze keine zufällige Aufnahme, sondern eine fein säuberliche Inszenierung. Wer Frieden will, so die Botschaft, muss für ihn kämpfen.
Nina Frieß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS. Gemeinsam mit einem Kollegen schrieb sie vor Kurzem eine Gnose über Prilepin für den dekoder.
[1] Was er von Prilepin hält, zeigt er in seinem neuesten Roman: In „Manaraga“ (2017) findet sich eine Szene, in der dem Protagonisten Bücher eines postsowjetischen Autors zum Kauf angeboten werden (allerdings nicht zum Lesen, sondern um darauf zu grillen; gelesen wird in „Manaraga“ nicht mehr). Der Buchtitel und die kurze Beschreibung des Inhalts samt Helden sind eine Persiflage zweier Bücher Prilepins. Der Protagonist lehnt den Kauf schließlich ab, auf solchem Material grille er nicht.