Kalter Krieg als Denkfigur? Alte Raumbilder und neue Emotionen
Vor knapp dreißig Jahren endete der Kalte Krieg als geschichtliche Epoche und als geopolitisches Leitbild mit Anspruch auf globale Gültigkeit. Die für den Westen sinnstiftende Idee der Andersartigkeit des Ostens aber blieb bestehen und alte Vorstellungen lösten sich nicht einfach auf. Sie verloren zwar während der 1990er und 2000er Jahre eine Zeitlang ihre Erklärungskraft, blieben aber ein Baustein kollektiver Erinnerungsmuster und diskursiver Archive. Trotz neuer Leitbilder, wie dem Kampf der Kulturen oder den Unterschieden zwischen Globalem Norden und Globalem Süden, ging die Ost-West-Binarität nie verloren. Der Kaukasuskrieg 2008 und der Ukrainekrieg seit 2014 brachten sie mit Macht in den öffentlichen Diskurs zurück und es entstand überraschend schnell die Denkfigur von einem „Neuen Kalten Krieg“. Der Begriff erscheint emotional anschlussfähig, obwohl heutige Konflikte in fast allen Bereichen anders sind als damals.
Welche sprachlichen Eigenheiten und Veränderungen sich in neuen Risiko-Erzählungen und Auseinandersetzungen zwischen Ost und West ergeben, steht im Zentrum eines DFG-Projektes an der Universität Münster. Anhand von Millionen von Zeitungsartikeln, Social-Media-Beiträgen, politischen Reden und Bildern werden Verschiebungen geopolitischer Narrative in Deutschland nachgezeichnet.
Russland als Elefant im Raum
Die Ergebnisse zeigen: Der Westen scheint den Osten weiterhin zu brauchen, um sich selbst als (moralisch überlegener) Westen konstruieren zu können. Diese Selbstbezeichnung hat in den letzten fünf Jahren sogar deutlich zugenommen. Gleichzeitig haben sich die räumlichen Muster verschoben: Der Neue Kalte Krieg findet nicht mehr global, sondern fast ausschließlich im Osten und in Bezug auf Russland statt. Der Westen selbst bildet ein unmarkiertes Zentrum in diesem Dualismus. Selbst die Ukraine spielt im Diskurs eine untergeordnete Rolle. Sie ist zwar Austragungsort des Konfliktes, aber Ereignisse und Proteste werden eher in das größere Schema prorussisch versus proeuropäisch einsortiert.
Sprachliche Wege zum neuen Kalten Krieg
Wie kann man solche Zusammenhänge theoretisch verstehen? Geopolitische Archive (Reuber) sind geronnene Vorstellungen von der Ordnung der Welt. Es sind Weitererzählungen von Geschichten, die noch wirkmächtig sein können, selbst wenn sie lange kein Teil medialer Erklärungsmuster mehr waren, und sie funktionieren in politischen Berichten bis hin zu popkulturellen Bezügen. So behalten in vielen Kinofilmen russischsprachige Bösewichte ihren „östlichen“ Akzent selbst in Synchronisationen. Auch in Witzen und Karikaturen werden tradierte Stereotype weitergetragen. Häufig wird Russland als archaisch und rückständig dargestellt, es finden sich Vorstellungen von alten, mächtigen Männern und von jungen, ausgenutzten Frauen, von eisiger Kälte und vom (vermeintlich russischen) Bären. Fragmente solcher Deutungsmuster finden sich selbst in Bundestagsdebatten und Leitartikeln. Bezüglich der inneren Machtverhältnisse wird russische Geschichte medial zumeist in Form von einflussreichen Einzelpersonen erzählt. Die Zuspitzung auf Putin als starker Herrscher, ähnlich einem Zaren, ist das derzeit prominenteste Beispiel für eine solche Vereinfachung. Seine Kindheit und sein Leben werden genutzt, um russische Außenpolitik zu erklären. Alles, was er verkörpert, steht so gleichzeitig für Russland und umgekehrt. Auch deshalb werden russische Teilnehmende des ESC ausgebuht, während sonst mehr zwischen der Politik und Popkultur eines Landes unterschieden wird. In Bezug auf Russland fehlt aber häufig eine ressortübergreifende mediale Repräsentation. Stattdessen scheint es neben Putin nur einen Oppositionspolitiker und eine Musikband zu geben, über die berichtet wird.
Der Osten wurde in westlichen Mediendiskursen jahrzehntelang – aber vor allem während des Kalten Krieges – institutionell, moralisch und ästhetisch abgewertet. Eine Aufarbeitung der gegenseitigen „Propaganda“-Diskurse hat in Deutschland und anderswo kaum stattgefunden. Wenn „der Russe vor der Tür steht“, klingt das für viele noch immer nach Gefahr und nicht nach Besuch.
Doch es sind nicht nur alte sprachliche Bilder, die heute Angst machen können. Sie schlagen sich auch in politischen Praktiken nieder. Tatsächlich hat Russland eine Halbinsel annektiert und führt mehr oder weniger offen Krieg im Osten der Ukraine. Eine direkte Konfrontation zwischen NATO und Russland ist zwar derzeit nicht in Sicht, aber beide Seiten greifen auf die Drohgebärden des Kalten Krieges zurück. Einerseits gibt es große Militärübungen im Grenzraum. Andererseits begleiten sich russische und NATO-Flugzeuge im internationalen Luftraum häufiger als in den 1990er Jahren was in einem Zirkelschluss selbst zur Begründung der Krise dient.
Alte Denkmuster – neue Emotionen
Diese Krisenrhetorik betrifft auch die emotionale Ebene und hier lassen sich einige Veränderungen finden: In den 1980er Jahren war in Deutschland Angst die bestimmende Emotion in Bezug auf den Kalten Krieg. Diese Angst bezog sich vor allem auf die Vorstellung, dass Europa verwüstet würde, egal wie ein möglicher „heißer“ Krieg zwischen den Supermächten ausginge. Die Auswertung großer Mengen von Leserinnenbriefen und Social-Media-Posts zeigt, dass seit etwa fünf Jahren nicht mehr Angst, sondern vor allem Verachtung die vorherrschende Emotion ist. Gefühle der Verachtung werden dabei sowohl auf Putin als auch auf Russland bezogen. Angst, dass es wirklich zum Krieg kommt, oder Hoffnung, dass sich etwas an den Konflikten ändern könnte, tauchen hingegen deutlich seltener auf. Solche Emotionen sind aber auch immer selbst teil komplexer diskursiver Strategien und somit nicht in einem wörtlichen Sinne „authentisch“ oder „wahr“.
Gemeinsam zeigen diese Ergebnisse, wie wichtig es ist, gesellschaftliche Debatten, Emotionen und Erinnerungen aus den diskursiven Archiven zusammen zu denken, um geopolitische Konstellationen zu verstehen. Es geht eben nicht nur um Standorte von Panzern und Raketen, da auch gesellschaftlich tradierte Risikowahrnehmungen einen Krieg sprachlich anbahnen. Wer das Weltgeschehen durch die Brille des Kalten Krieges sieht, wird überall Anzeichen dafür finden. Um nicht der Gefahr einer solchen single story zu verfallen, ist es wichtig, zu differenzieren und auch die Frage aufzuwerfen, was es bedeutet, Konflikte in dieser Logik zu denken. Es wäre wünschenswert, wenn westliche Medien russische Politik kritisieren könnten, ohne dabei gleichzeitig in alte Binaritäten zu verfallen. Gerade wenn Debatten emotionaler werden, ist es wichtig, die geopolitischen Archive im Blick zu behalten, um zu verstehen, warum sich welche Einstellungen im Diskurs als vermeintlich „wahr“ anfühlen und welche möglichen anderen Perspektiven sie verstellen.
Christoph Creutziger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Paul Reuber ist Professor für Politische Geographie am Institut für Geographie der Universität Münster.