Bedeutung des Latschin-Korridors im Konflikt um Bergkarabach
Im Schatten des russischen Krieges in der Ukraine droht im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ein Gewaltausbruch mit potenziellem Flächenbrand, sollte nicht zeitnah eine Lösung gefunden werden. Der Latschin-Korridor als Hauptverbindung zwischen Armenien und Bergkarabach spielt hier eine Schlüsselrolle.
Seit fast fünf Monaten ist der sogenannte Latschin-Korridor, die Hauptverkehrsroute zwischen dem Kernland Armenien und der De-facto-Republik Bergkarabach, nun bereits faktisch gesperrt. Zunächst wurde der Korridor von angeblichen aserbaidschanischen Umweltaktivist*innen blockiert, und nun durch einen aserbaidschanischen Kontrollpunkt. Die Blockade wurde international verurteilt und Aserbaidschan im Februar vom internationalen Gerichtshof in Den Haag aufgefordert, die Bewegungsfreiheit innerhalb des Korridors wieder zu gewährleisten. Die Folgen der Blockade waren und sind verheerend für Bergkarabach, und im Zweifel für die gesamte Region.
Die Blockade selbst aber auch der am 23. April eingerichtete aserbaidschanische Kontrollpunkt verstoßen gegen die von Russland vermittelte trilaterale Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Armenien und Aserbaidschan vom 9. November 2020. Beides wurde jedoch von den russischen Friedenstruppen, die gemäß der Vereinbarung der einzige Garant für Sicherheit in dem Korridor sein sollen, nicht verhindert. Es ist anzunehmen, dass die Blockade und der neue Kontrollpunkt der Versuch Aserbaidschans sind, die Kontrolle nicht nur über die Infrastruktur sondern über das gesamte Gebiet Bergkarabach zu erlangen. Zudem verfolgt Aserbaidschan noch weitreichendere Pläne, die zusätzliche Interessenskonflikte in der Region hervorrufen könnten. Wie stehen die Chancen für eine friedliche Konfliktlösung in dieser Situation?
Auswirkungen der Blockade und des neu eingerichteten Checkpoints
Die Blockade hat den rund 120.000 Bewohner*innen Bergkarabachs nicht nur einen harten Winter beschert, indem sie teilweise von der Gas- und Stromversorgung abgeschnitten wurden und die Preise für Lebensmittel sowie andere Güter und Dienstleistungen exorbitant angestiegen sind. Sie erschwert das Leben der Menschen in einem solchen Ausmaß, dass viele aus der Region abwandern und der Latschin-Korridor, so der Anwalt Armeniens vor dem internationalen Gerichtshof, „zu einer Einbahnstraße wird“. Vor allem junge Menschen und Familien verlassen die Region, da es kaum Arbeitsplätze gibt und sie keine Perspektive für sich sehen.
Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew verfolgt schon seit Längerem eine Politik, die er als „Korridor gegen Korridor“ bezeichnet. Er zieht damit eine Analogie zwischen dem Latschin-Korridor und der Transitroute, von Aserbaidschan auch Zangezur-Korridor genannt, zwischen West-Aserbaidschan und der autonomen aserbaidschanischen Region Nachitschewan, einer Enklave zwischen Armenien, der Türkei und dem Iran. Der Latschin-Korridor soll aus Sicht Aserbaidschans eine Art Blaupause für Zangezur werden: Hier würde Aserbaidschan, so die Rhetorik Bakus, ebenfalls armenische Kontrollpunkte akzeptieren. Der große Unterschied ist, dass Armenien die Idee eines Korridors, der die südliche Provinz Tsyunik wie auch den für Armenien vital wichtigen Grenzabschnitt mit dem Iran vom restlichen Land abschneiden würden, in Gänze ablehnt. Aserbaidschans Interesse ist hier vor allem ökonomischer Art, denn eine direkte Landverbindung zur Türkei, seinem engsten Verbündeten, würde die wirtschaftliche Aktivität in der Region ankurbeln.
Interessen internationaler und regionaler Akteure
Während die Türkei nicht nur in Fragen der „Korridordiplomatie“ voll und ganz hinter der Politik Alijews steht, hat sich der Iran wiederholt ablehnend gegenüber einem möglichen von Aserbaidschan genutzten Transportkorridor im Süden Armeniens ausgesprochen. Die militärischen Übungen der islamischen Revolutionsgarden entlang der armenisch-iranischen Grenze im Oktober unterstrichen diese Haltung.
Während die Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zunehmend nur noch auf dem Papier existiert, hat die Europäische Union ihre Rolle in der Friedensvermittlung im Südkaukasus graduell ausgebaut. Auf Armeniens Wunsch hin wurde im Februar 2023 eine zivile EU-Beobachtungsmission eingesetzt, die zur Vertrauensbildung zwischen Armenien und Aserbaidschan beitragen soll.
Was Russlands Rolle als Mittler und Akteur mit eigenen Interessen in der Region angeht, wird sein Handeln derzeit vor allem durch das Verhalten der sogenannten russischen Friedenstruppen bestimmt und wahrgenommen. Die etwa 1960 Soldat*innen im Einsatz an den Kontrollpunkten entlang der Kontaktlinie zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie innerhalb des Latschin-Korridors haben zwar ein robustes Mandat, agieren aber äußerst passiv. Aserbaidschanische Offensiven auf das Gebiet Bergkarabachs haben die Friedenstruppen bislang tatenlos zugelassen. Russlands zögerliches Agieren gegenüber Aserbaidschan zeugt offensichtlich von der Angst, das Land als wichtigen Wirtschaftspartner zu verprellen und den dahinterstehenden türkischen Verbündeten nicht zu provozieren. Aufgrund der westlichen Sanktionen ist Russland auf alternative Zugänge zu Handelsrouten und Weltmärkten angewiesen und dadurch in eine Abhängigkeit von der Türkei und Aserbaidschan geraten.
Die Friedenstruppen werden somit ihrem Mandat aus der Waffenstillstandserklärung nicht mehr gerecht, obgleich es Russlands Hauptinteresse ist, seinen Einfluss aufrechtzuerhalten und in der Region präsent zu bleiben. Obwohl der Kreml an Legitimität in Armenien und in Bergkarabach selbst eingebüßt hat, was sich auf seine Rolle als Ordnungsmacht in der Region auswirkt, haben Berichten der Novaya Gazeta Europe zufolge Kommandeure vor Ort von der Blockade profitiert und ein gut laufendes Geschäft daraus gemacht, für Zivilist*innen teure Passagen nach oder aus Bergkarabach heraus zu arrangieren. Auch für Lebensmittellieferungen in die Region nahmen sie teilweise mehrere Tausend Dollar pro LKW.
Das Verhalten des russischen Kontingents hat die armenisch-russischen Beziehungen sowie die Haltung Armeniens gegenüber der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) massiv belastet. Bereits während des 44-Tage-Krieges 2020 hat sich Armenien enttäuscht über die mangelnde Unterstützung Russlands gezeigt. Auch in den Folgejahren, als aserbaidschanische Einheiten wiederholt in armenisches Gebiet eindrangen, wurden Anfragen Armeniens nach Unterstützung auf Grundlage von Art. 4 (militärischer Beistand) durch die OVKS zurückgewiesen. Die Rufe nach einer Aussetzung der armenischen Mitgliedschaft wurden laut im Land. Während proeuropäische Kräfte fordern, Armenien zugänglicher für westliche militärische Bündnisse und Unterstützung zu machen, sieht die tendenziell russlandfreundliche Opposition die derzeitige Haltung der Regierung gegenüber dem Kreml und der OVKS als fahrlässig und äußerst gefährlich an.
Eskalationspotenzial vs. Friedensaussichten
Nachdem Aserbaidschan einen eigenen Kontrollpunkt im Latschin-Korridor eingerichtet hat und fortan jegliche Bewegung in und aus Bergkarabach heraus kontrolliert, kommen aus Baku noch weitergehende Forderungen. Seit 2021 macht Alijew überdies immer wieder Gebietansprüche gegenüber Armenien geltend. Diese territorialen Ansprüche sollen vor allem Jerewans Forderungen nach einem Sonderstatus für Bergkarabach langfristig schwächen.
Obwohl derzeit wieder Friedensgespräche geführt werden, ist ein nachhaltiger Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan noch in weiter Ferne. Die Vision für Bergkarabach, wie sie wiederholt von Mitgliedern der armenischen Regierung formuliert wurde, wird schwierig umzusetzen sein. Sie umfasst 1) einen Sonderstatus für Bergkarabach; 2) eine internationale bewaffnete friedenserhaltende Mission mit robustem Mandat der UN sowie russischem Einverständnis; 3) und eine demilitarisierte Zone rund um das Gebiet Karabach). Aserbaidschan tritt derzeit sehr selbstbewusst auf, und ist zu wenigen Zugeständnissen bereit – weder gegenüber Armenien noch gegenüber den Karabach-Armenier*innen, mit denen es seit einiger Zeit bilaterale Verhandlungen führt. Sollte es in absehbarer Zeit weder zu einem Friedensabkommen zwischen den Konfliktparteien noch zu einer Verhandlungslösung zwischen Aserbaidschan und den Vertreter*innen Bergkarabachs kommen, ist nicht ausgeschlossen, dass die aserbaidschanische Führung, getrieben von der eigenen Bevölkerung, erneut auf militärischem Wege versucht zu erreichen, was auf diplomatischen Wege nicht möglich schien.
Dr. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS im Rahmen des KonKoop-Netzwerks, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird.