ZOiS Spotlight 16/2024

Das politische und kulturelle Schicksal der Karabach-Armenier*innen in Armenien

Von Ivaylo Dinev Nadja Douglas 04.09.2024

Die meisten im September 2023 aus Bergkarabach geflohenen Karabach-Armenier*innen zog es in ihren „Mutterstaat“ Armenien. Frühere Umfragen zeigen eine starke karabach-armenische Identität und den Wunsch nach eigener politischer und kultureller Repräsentation. Doch die armenische Regierung hat andere Pläne.

Die Flagge von Bergkarabach mit dem Zickzackschnitt, der die Trennung des De-facto-Staates von Armenien symbolisiert. IMAGO / Panthermedia

Infolge der aserbaidschanischen Militäroffensive im September 2023 wurde das Territorium von Bergkarabach in den aserbaidschanischen Staat reintegriert. Ein Massenexodus der Karabach- Armenier*innen war die Folge. Während einige von ihnen nach Russland oder Europa gingen, versuchten die meisten von ihnen in Armenien ein neues Leben anzufangen. Heute ist einer von 30 Menschen, die in Armenien leben, aus Bergkarabach geflüchtet. Die armenische Regierung hat die Verantwortung für viele der praktischen Herausforderungen ihrer Integration in die armenische Gesellschaft übernommen. Die anfängliche Empathie innerhalb der armenischen Gesellschaft war riesig und die Unterstützung der Regierung galt als großzügig. Allerdings haben die staatlichen Hilfsprogramme den Staatshaushalt stark belastet und es ist unklar, wie lange diese Unterstützung noch aufrechterhalten werden kann. Von den drei Millionen Einwohner*innen Armeniens leben bereits 24,8 Prozent unter der Armutsgrenze und die internationalen Hilfen für Vertriebene aus Bergkarabach reichen bisher nicht aus. Wie wirkt sich aber die Entwurzelung aus ihrem Heimatland abseits der Frage materieller Unterstützung auf die politische und kulturelle Identität der Karabach-Armenier*innen aus? Dieser Beitrag wirft ein Licht auf das Schicksal der karabach-armenischen Identität, das Risiko der Assimilation und die Wahrscheinlichkeit, dass die Karabach-Armenier*innen in Armenien als eine Minderheit anerkannt werden.

Nationale und politische Identität

Daten des Nationalen Sicherheitsbüros (National Security Service, NSS) der Republik Armenien zufolge hatten bis Mai 2024 17.269 aus Bergkarabach vertriebene Personen Armenien verlassen, von denen 7.138 wieder zurückkehrten. Das geschah trotz Premierminister Paschinjans Beteuerungen, die Regierung werde alles dafür tun, um sicherzustellen, dass die Menschen aus Karabach in Armenien bleiben. Das ehemalige Büro des Menschenrechtskommissars von Bergkarabach erklärte im April 2024, mehr als 30 Prozent der Vertriebenen würden mit dem Gedanken spielen, in Drittstaaten auszuwandern. Prinzipiell haben alle Karabach-Armenier*innen das Recht, die armenische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Allerdings stellten nur 1.437 der 79.000 vertriebenen Karabach-Armenier*innen, die bis März 2024 den Registrierungsprozess durchlaufen hatten, einen Einbürgerungsantrag.

Die ehemaligen De-facto-Eliten von Bergkarabach haben versucht, eine Exilregierung zu bilden. Sie sind zu einem Stachel im Fleisch der Regierung Paschinjan geworden und ihre Ideen sind auf entschiedene Ablehnung gestoßen. Der Sprecher des armenischen Parlaments Alen Simonjan erklärte, dass es keinen Staat Karabach innerhalb Armeniens geben könne und Armenien kein Geld zum Erhalt der politischen Institutionen Karabachs zur Verfügung stellen werde. Wie unzufrieden die Karabach-Armenier*innen auf politischer Ebene mit den Behörden in Armenien sind, ist insbesondere in den sozialen Medien spürbar.

Vergangene Identifikationsmuster

Um die gegenwärtige nationale und kulturelle Identität der Karabach-Armenier*innen zu verstehen, ist es sinnvoll, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts am ZOiS wurden einzigartige Umfragedaten1 aus Bergkarabach (2011 und 2020) analysiert, um die Evolution von Identifikationsmustern nachzuzeichnen und Schlussfolgerungen für die Zukunft der Karabach-Armenier*innen zu ziehen.       

Die Umfragen deuteten auf eine hohe ethnische, linguistische und religiöse Homogenität der Karabach-Armenier*innen hin. So gut wie alle betrachteten sich als armenisch und brachten einen immensen Nationalstolz zum Ausdruck. Die Tatsache, dass eine Mehrheit der Befragten über 20 Jahre an ein und demselben Ort gelebt hatten (Abbildung 1), erklärt den starken Zusammenhalt unter den Menschen und ihre Loyalität gegenüber dem De-facto-Staat Bergkarabach.

Die Umfrage offenbarte auch ein hohes Maß an Stolz auf die eigene ethnische Gruppe (Abbildung 2) und ihre historische Vergangenheit, was auf eine stark ausgeprägte Gruppenidentität schließen lässt.

Der ungelöste Territorialkonflikt wirkte sich negativ auf die Mobilität der Befragten und ihre Verbindungen zu anderen Staaten aus. Die Beschaffung von Reisepapieren wurde mühsam und Reisen in und aus der Region wurden durch logistische Herausforderungen und sozioökonomische Zwänge erschwert. Nur 5,4 Prozent gaben an, ein außerhalb des De-facto-Staates lebendes Familienmitglied zu besitzen, 8,1 Prozent verfügten über einen Reisepass und knapp unter 3 Prozent waren mehr als einmal in andere Länder als Armenien gereist.

Im Hinblick auf ihre politischen Ansichten waren sich die Bewohner*innen von Bergkarabach tendenziell uneinig. Die Umfrage zeigte, dass die Befragten zu etwa gleichen Anteilen drei unterschiedliche politische Systeme bevorzugten: dasjenige des De-facto-Staats, das sowjetische System und das der westlichen Demokratien und Armeniens. Darüber hinaus waren die Karabach-Armenier*innen sich auch in der Frage uneins, ob sie Unabhängigkeit oder die Vereinigung mit Armenien wollten.

In dieser Hinsicht bestand eine klare Korrelation (Abbildung 4) zwischen der Unterstützung staatlicher Unabhängigkeit und einem stark ausgeprägten Nationalstolz, der oft in dem Gefühl wurzelte, Opfer zu sein.

Die Daten bestätigen, dass die Karabach-Armenier*innen mehrere Jahrzehnte lang in Isolation gelebt und eine besondere kulturelle Identität entwickelt haben, die sich von der des armenischen Mutterstaates unterscheidet. Dieses Ergebnis lässt daran zweifeln, dass sich die Karabach-Armenier*innen in den kommenden Jahren reibungslos in die armenische Mehrheitsgesellschaft integrieren lassen werden.

Kulturelle Rechte, Minderheitenstatus und das Risiko der Assimilation

Im Augenblick wird das Problem der Karabach-Armenier*innen auf humanitäre Aspekte verkürzt und steht nicht mehr im Fokus internationaler Aufmerksamkeit. Dennoch haben Vertreter*innen der Karabach-Armenier*innen die armenischen Behörden gebeten, ihnen die Möglichkeit zu geben, ein Gemeinschaftsleben aufzubauen, um ihre Kultur und Traditionen zu bewahren. Das Versagen, auf diese Wünsche Rücksicht zu nehmen, sowie die vollständige Unterdrückung der politischen Vertretung der Karabach-Armenier*innen könnte dem Verhältnis zwischen der armenischen Mehrheitsgesellschaft und der karabach-armenischen Gemeinschaft schaden. Ihre Integration würde dadurch ebenfalls erschwert werden. Die Ergebnisse der zwei Umfragewellen 2011 und 2020 zeigen, dass es sich bei den Karabach-Armenier*innen um eine stolze ethnische Gruppe mit einem starken Gefühl der Zusammengehörigkeit und Identität handelt. Die Tatsache, dass sie lange Zeit in relativer Isolation gelebt haben, getrennt von der armenischen Titularnation, macht es ihnen nicht leicht, in der gegenwärtigen armenischen Gesellschaft aufzugehen. Trotzdem besteht das Risiko der Assimilation und die Aussichten darauf, dass die Gemeinschaft ihre kulturelle und politische Identität wird bewahren können, sind eher düster. Viele insbesondere junge Leute können sich mit dem Gedanken einer Integration in die armenische Gesellschaft arrangieren. Für die Mehrheit aber, deren politische Ansichten und persönlichen Schicksale so eng mit ihrer Heimatregion verbunden sind, wird Integration die zweitbeste Lösung bleiben.


Die Umfrage wurde durch das Soziologische Forschungszentrum der Armenischen Akademie der Wissenschaften in Jerewan (erste Welle) und dem Caucasus Research Ressource Center in Jerewan (zweite Welle) durchgeführt. Beide Umfragen wurden von einem multinationalen Team aus Forscher*innen konzipiert und geleitet. Die Datenerhebung wurde teilweise von der US National Science Foundation finanziert, Fördernummer 1759645 (mit John O’Loughlin als Principal Investigator).


Dr. Ivaylo Dinev ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS, wo er das multimethodische Datenlabor des KonKoop-Forschungsnetzwerks koordiniert.

Dr. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und Teil des KonKoop-Netzwerks, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.