Der unsichere Bildungsweg geflüchteter ukrainischer Kinder
Eine Umfrage unter ukrainischen Geflüchteten mit schulpflichtigen Kindern in Schweden zeigt deren Schwanken zwischen der Wertschätzung neuer Lernerfahrungen und der Sorge, hinter den ukrainischen Lehrplan zurückzufallen. Wegen der unsicheren Zukunftsaussichten versuchen viele, in beiden Ländern zugleich zu leben.
Aus dem Englischen übersetzt von Michael G. Esch.
Der vollumfängliche Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, hat Millionen Ukrainer*innen zur Flucht ins Ausland getrieben. Am 10. Oktober 2023 fanden sich mehr als 5,8 Millionen ukrainische Geflüchtete, in der Mehrzahl Frauen und Kinder, über ganz Europa verstreut. Die von der EU verabschiedete „Richtlinie zum vorübergehenden Schutz“ ermöglicht es Ukrainer*innen, die vor dem Krieg fliehen, einen Antrag auf vorläufigen Wohnsitz in einem EU-Mitgliedsstaat zu stellen. Im Jahre 2022 haben fast 50.000 ukrainische Staatsbürger*innen diesen vorübergehenden Schutz in Schweden in Anspruch genommen; ein Drittel waren Minderjährige unter 18 Jahren, davon mehr als 10.000 Kinder im Schulalter. Nun berichten einige Quellen, dass lediglich 33.000 Geflüchtete aus der Ukraine 2023 einen Antrag auf Verlängerung ihres Aufenthaltstitels in Schweden über den ursprünglich gewährten einjährigen vorübergehenden Schutzstatus hinaus beantragt haben. Könnte die Frage der Schulbildung der Kinder einer der Gründe dafür sein?
Eine Studie, die von November 2022 bis März 2023 durchgeführt wurde, untersucht die Migrations- und Bildungserfahrungen ukrainischer Geflüchteter mit schulpflichtigen Kindern in Schweden. Wie viele der weltweit verstreuten Ukrainer*innen, die von einem Schulsystem in ein anderes wechselten, mussten ukrainische Familien in Schweden mit der schulischen Praxis in beiden Ländern umgehen lernen. Nach sechs- bis zwölfmonatigem Aufenthalt in Schweden hegten die Geflüchteten gemischte Gefühle hinsichtlich der schwedischen Schulen und dem Richtungswechsel im schulischen Werdegang ihrer Kinder: Auf der einen Seite schätzten sie die empfangene Unterstützung und die neuen schulischen Erfahrungen. Auf der anderen brachten sie die Furcht zum Ausdruck, die Kinder könnten hinter dem nationalen Lehrplan in der Heimat zurückfallen.
Weniger Erfolgsdruck
Ukrainer*innen sind im Allgemeinen daran gewöhnt, in die Ausbildung ihrer Kinder zu investieren – nicht nur in finanzieller Form, sondern auch mit Zeit und Mühe. Lilia, die aus der Region Ternopil kommt und deren Familie jetzt in Schweden lebt, erinnert sich, dass sie Stunden damit zugebracht hat, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen: „All diese Abende, die ich über ihren Büchern gesessen habe. So viel meiner Gesundheit habe ich hineingesteckt […], damit sie auf das Gymnasium mitkommen.“ In Schweden besuchen ihre Söhne, die neun und zwölf Jahre alt sind, eine lokale Schule, die ihr das Gefühl gibt, ihre Bemühungen seien umsonst gewesen: „Es regt mich auf, weil die Kinder so weit zurückgefallen sind. Es wird ihnen jetzt so einfach gemacht. Sie haben das Interesse verloren.“
Anders als in der Ukraine erwarten Schulen in Schweden nicht, dass Eltern oder Betreuer*innen sich inhaltlich in nennenswertem Umfang am Lernen ihrer Kinder beteiligen. Schwedens obligatorischer Lehrplan ist nicht so dicht mit Inhalten vollgepackt wie der ukrainische, und der Leistungsdruck auf die Kinder scheint geringer zu sein. Svitlana, Mutter zweier Kinder im Alter von sieben und elf aus der Region Cherson, erklärt: „Der schwedische Lehrplan ist weit hinter unserem in der Ukraine zurück. Was mein Sohn in der Ukraine im ersten Schuljahr gelernt hat, lernt er hier im fünften. Ich mache mir Sorgen, dass er zurückfällt.“ Ähnlich denkt auch Albina, deren neunjähriger Sohn in Charkiw eine kostenpflichtige private Schule besuchte und nun in eine schwedische Schule geht: „Er hat schnell begriffen, dass niemand hier Druck auf ihn ausübt, dass er sich nicht wirklich anstrengen muss.“
Mehr Zeit für Freunde und persönliche Entwicklung
Aber nicht alle sind mit dem Inhalt des schwedischen Lehrplans unzufrieden: Einige Eltern haben ihre Einstellung zu schulischer Bildung geändert. Lilia, die ihren Kindern Nachhilfe gegeben hatte, damit diese die Erwartungen der Lehrer*innen an ihrer ukrainischen Schule erfüllen konnten, schätzt das Fehlen übermäßigen Drucks auf Kinder und Eltern in Schweden: „Ein großer Nachteil der ukrainischen Bildung besteht darin, dass du viel Zeit dafür aufwenden musst. Machst Du das nicht, dann kommst du nicht durch, denn der Stoff ist schwer, und er ist umfangreich.“
Anna, deren drei Töchter in Kyjiw angesehene Schulen besucht haben und nun auf schwedische Schulen gehen, reflektiert den Wandel in ihrer Haltung: „Ich habe all die Kinder beobachtet, die im gleichen Alter sind wie meine Töchter, und mir ist aufgefallen, wie entspannt und wie wenig aggressiv sie hier sind. Bis zum Alter von zwölf Jahren sind sie alle Kinder. In der Ukraine ist das ganz anders. Hier ist der Lehrplan während der Zeit, in der sich der Geist der Kinder erst herausbildet, flexibler und leichter. Er ist zum Beispiel nicht mit sehr schwerer Mathematik vollgestopft. Wir sollten nicht meinen, Mathe sei hier schwächer. Aber sie kommt zum richtigen Zeitpunkt. Wenn du zwölf bist, brauchst Du keinen vollgestopften Lehrplan.“
Dank des weniger vollen Lehrplans können schwedischen Schulen mehr Zeit für die Sozialisierung und die Entwicklung der Neugier, der kommunikativen Fähigkeiten und des Umweltbewusstseins der Schüler*innen aufwenden. Ukrainische Familien lernen allmählich, diese neuen Lernerfahrungen als Möglichkeiten zu schätzen, die ihre Kinder in der Heimat nicht hatten – angefangen beim gemeinsamen Lösen komplexer Probleme in altersgemischten Gruppen bis hin zu Fußballmannschaften, die von Mädchen geleitet werden.
Eine unmögliche doppelte Präsenz
Die Unsicherheit, die mit dem vorübergehenden Schutzstatus der ukrainischen Geflüchteten einhergeht, speist jedoch auch ihre Ambivalenz hinsichtlich der Schulerfahrungen ihrer Kinder in Schweden. Angesichts dieser Ungewissheit bemühen sich viele Familie, in beiden Schulsystemen gleichzeitig anwesend zu sein. In den Worten Lidias, der Mutter eines achtjährigen Schulkindes aus der Region Tscherkasy: „Wir lernen jetzt online mit der ukrainischen Schule, weil es ja keine Garantie gibt, dass sie uns hierbehalten. Viele Leute haben ihre Kinder auf den ukrainischen Schulen gelassen, weil wir nicht wissen, wie es weitergeht.“
Studien zur zirkulären Migration haben das Phänomen untersucht, dass manche Migrant*innen sowohl in der Ukraine als auch im Ausland präsent sind. Diese Form der Migration verlangt eine „unmögliche Allgegenwärtigkeit“, da die Migrant*innen „trotz Abwesenheit präsent sein müssen, und gleichzeitig weiterhin an dem Ort, an dem sie sich aufhalten, vollständig präsent sein sollen.“ Der Status des vorübergehenden Schutzes verlangt eine ebensolche Quadratur des Kreises von ukrainischen Flüchtlingen.
Die Unterschiede zwischen den beiden Systemen sind beträchtlich, und die Aussichten derer, die eine solche doppelte Präsenz versuchen, sind weiterhin unklar. Bei der Untersuchung zirkulärer Migration ist deutlich worden, dass eine sogenannte „transnationale Bilokalität“ nicht über lange Zeit aufrechterhalten werden kann und in der Regel nur eine Generation betrifft. Die künftigen Lebenswege von geflüchteten ukrainischen Kindern werden von der weiteren Entwicklung der Politik vorübergehenden Schutzes abhängen, vom sozialen Status der Familien in der Ukraine und im Ausland und nicht zuletzt vom symbolischen Wert, den die Familien und ihre Kinder diesen beiden Kontexten jeweils zuschreiben.
Helen Pidgorna ist Sozialwissenschaftlerin und Fellow im Ukraine Research Network@ZOiS, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.