Die endlose Sanduhr? Das lebendige Erbe der sowjetischen Geschichte in Deutschland
Mit einer verzerrten Darstellung der Geschichte versucht Russland, auch in Deutschland Menschen mit (sowjet-)russischem Hintergrund zu beeinflussen. Doch verfängt diese Strategie? Umfragen des ZOiS zeigen, dass ihre Ansichten über die Sowjetunion und die Wende von denen der allgemeinen Bevölkerung abweichen.
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Russlands Politisierung und Instrumentalisierung der Geschichte macht an den Landesgrenzen nicht Halt, sondern zielt auch auf Diasporagemeinschaften ab. Der Kreml nutzt das Konzept der „Russischen Welt“ (Russkij Mir) als geopolitisches Werkzeug, um russischsprachige Bevölkerungsgruppen im Ausland durch maßgeschneiderte historische Narrative zu beeinflussen. In Deutschland werden diese Narrative, die besonders unter russischsprachigen Migrant*innen aus der ehemaligen Sowjetunion auf Resonanz stoßen, häufig von der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) mit ihrer traditionellen Russlandnähe und dem linkspopulistischen Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) aufgegriffen.
Auch die AfD stellt mit ihren verzerrten historischen Narrativen gängige Interpretationen der deutschen Geschichte in Frage, insbesondere im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg und die Wiedervereinigung. Die Partei setzt auf Geschichtsrevisionismus, um die öffentliche Wahrnehmung der Vergangenheit zu beeinflussen und die deutsche Nationalidentität neu zu definieren. Außerdem zieht die AfD kontroverse Parallelen zwischen der demokratischen Regierung von heute und der ehemaligen DDR und macht sich dabei das Erbe der Friedlichen Revolution von 1989 zu eigen.
Menschen mit einem (sowjet-)russischen Hintergrund[1] müssen sich zwischen Deutschlands historischen Narrativen und Russlands revisionistischen Interpretationen zurechtfinden, die nicht selten von rechtsextremen oder linksgerichteten Politiker*innen in Deutschland gestützt werden. Im Rahmen des ERC-finanzierten Projekts MoveMeRU untersucht das ZOiS diese historischen Assoziationen. Dafür wurden von Frühjahr bis Sommer 2024 generationenübergreifende Umfragen durchgeführt. In Zusammenarbeit mit dimap befragten wir etwa 1.900 Teilnehmer*innen: ungefähr 1.500 Befragte aus der allgemeinen deutschen Bevölkerung und etwa 400 mit einem (sowjet-)russischen Hintergrund. Wir wollten wissen, was die Menschen mit der Sowjetunion verbinden, wobei wir uns auf die Zeit zwischen Stalins Tod 1953 und dem Aufstieg Gorbatschows 1985 konzentrierten. Außerdem interessierten uns ihre Wahrnehmungen der Wende der späten 1980er-Jahre, einer Zeit politischer und sozialer Transformationen in Ostdeutschland, die letztendlich zur Wiedervereinigung führten.
Unsere Analyse zeigt, dass nahezu die Hälfte der Befragten ausschließlich negative Assoziationen in Bezug auf die Sowjetunion hat. Im Allgemeinen wird die Wende von Befragten unterschiedlicher demographischer Hintergründe positiv betrachtet. (Sowjet-)Russische Migrant*innen der ersten Generation schätzen die erlangten politischen Freiheiten und sozialen Veränderungen. Die zweite Generation hingegen ist kritischer eingestellt.
Mehr als nur ein Kapitel: Assoziationen mit der Sowjetunion
Negative Assoziationen mit der Sowjetunion herrschen in allen Bevölkerungsgruppen vor. Nahezu die Hälfte der Befragten äußert ausschließlich negative Ansichten, eine Haltung, die besonders deutlich ausgeprägt ist unter jenen, die demokratische Werte entschieden befürworten. Etwa 15 Prozent berichten sowohl von positiven als auch von negativen Assoziationen, während ein ähnlicher Anteil ausschließlich positive Ansichten zum Ausdruck bringt.
Teilnehmer*innen mit ausschließlich positiven Assoziationen finden sich in erster Linie unter Befragten mit einem (sowjet-)russischen Hintergrund, von denen etwa 20 Prozent jener Gruppe angehören – mit einem höheren Anteil unter älteren Befragten – verglichen mit knapp über 10 Prozent in der allgemeinen deutschen Bevölkerung. Ältere Befragte betonen häufig die wirtschaftliche Stabilität, soziale Gleichheit und internationale Bedeutung der UdSSR. Im Gegensatz dazu ist der Mangel an politischer Freiheit der am häufigsten genannte negative Aspekt, sowohl in der allgemeinen Bevölkerung als auch unter Menschen mit einem (sowjet-)russischen Hintergrund.
Während ein Fünftel der Befragten über alle Gruppen hinweg den Mangel an wirtschaftlicher Freiheit erwähnt, wird dieses Thema von jüngeren Befragten mit einem (sowjet-)russischen Hintergrund seltener genannt. Bemerkenswerterweise gab ein Drittel der jüngeren Befragten mit (sowjet-)russischem Hintergrund keine Antwort, was die höchste Ausfallquote aller Gruppen darstellt.
Männliche Befragte neigen eher zu negativen Assoziationen, in denen sich sehr deutlich Narrative über die politische Repression und beschränkte Freiheit während der Sowjetzeit spiegeln. In der älteren Generation findet sich ein subtiler Trend an positiven Einstellungen, der auf ein Gefühl der Nostalgie nach der sozioökonomischen Stabilität dieser Zeit hindeutet. Diese Nostalgie wird jedoch durch erhebliche Bedenken über mangelnde persönliche Freiheiten und staatliche Kontrolle im Zaum gehalten.
Diejenigen Befragten, die über die Darstellung der sowjetischen Geschichte frustriert sind, assoziieren diese Zeit mit geringerer Wahrscheinlichkeit ausschließlich mit negativen Aspekten. Das Bildungsniveau hat keinen signifikanten Einfluss darauf, welche Assoziationen die Befragten mit der Sowjetunion verbinden, allerdings zeigt sich beim Erwerbsstatus ein geringer, aber statistisch signifikanter Effekt: Erwerbstätige Individuen neigen weniger stark zu negativen Ansichten über die Sowjetzeit.
Die Wende
Die Wende wird von Befragten unterschiedlicher demographischer Hintergründe im Allgemeinen positiv betrachtet, mit hohen Zustimmungswerten für Fortschritte bei den politischen Freiheiten und der europäischen Integration. Allerdings unterscheiden sich die Wahrnehmungen bei Themen wie privatem Unternehmertum und sozialem Vertrauen. Mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung unterstreicht die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz am Tag der Deutschen Einheit den Fortschritt, aber auch die anhaltenden Herausforderungen bei der Integration der früher geteilten Gesellschaften. Eine Studie von dimap offenbart, dass sich viele Ostdeutsche nach wie vor marginalisiert und als Bürger*innen zweiter Klasse fühlen, was die fortbestehende Kluft zwischen Ost und West verdeutlicht. Gepaart mit dem wachsenden Einfluss der AfD deutet dieses Gefühl darauf hin, dass nach wie vor Unterschiede in der gesellschaftlichen Integration und regionalen Identität bestehen.
Unsere Umfrageergebnisse zeigen bedeutende Unterschiede in den Einstellungen von Menschen mit einem (sowjet-)russischen Hintergrund und der allgemeinen deutschen Bevölkerung:
- In der ersten Generation (sowjet-)russischer Immigrant*innen ist eine ausgesprochen positive Sicht auf die politischen und sozialen Veränderungen zu beobachten, mit hohen Zustimmungsraten für politische Freiheiten (77 Prozent) und die freie Meinungsäußerung (79 Prozent). Im Gegensatz dazu verfügt die zweite Generation über kritischere, ambivalentere Einstellungen.
- Während Immigrant*innen der ersten Generation und die nationale Bevölkerung die europäische Integration generell befürworten, ist in der zweiten Generation ein deutlicher Rückgang positiver Einstellungen zu beobachten.
- In der zweiten Generation mit einem (sowjet-)russischen Hintergrund zeigt sich eine ausgeprägtere Neutralität und Unsicherheit in verschiedenen Bereichen, insbesondere im Hinblick auf privates Unternehmertum (34 Prozent) und die europäische Integration (30 Prozent). In der nationalen Bevölkerung ist diese Unsicherheit weniger erkennbar, vor allem im Hinblick auf politische Freiheiten und die freie Meinungsäußerung.
- Die allgemeine Bevölkerung, vor allem die ältere Generation, ist deutlich skeptisch im Hinblick auf das soziale Vertrauen (38 Prozent) sowie das Wachstum privaten Unternehmertums (58 Prozent). Diese Skepsis steht in scharfem Kontrast zum Optimismus der Eingewanderten der ersten Generation, die ihr neues Umfeld womöglich wohlwollender betrachten.
Zwischen der Wahrnehmung politischer Freiheit und Redefreiheit lässt sich ein enger Zusammenhang beobachten, woran deutlich wird, wie essenziell politische Offenheit ist, um die freie Meinungsäußerung zu fördern. Dieser Zusammenhang gilt auch bei der Unterstützung der europäischen Integration: Individuen, die ein höheres Maß an politischer Freiheit erleben, befürworten auch mit höherer Wahrscheinlichkeit die europäische Integration als Möglichkeit, eine demokratische Regierungsführung und die Rechte des Individuums zu stärken.
Mit dem Generationenwandel verändern sich auch die Bedeutung der historischen Erinnerung für den politischen Diskurs sowie die Einstellungen zur Sowjetzeit und der deutschen Wiedervereinigung. Geschichtliche Ansichten hängen mit den Einstellungen der Menschen zur Frage der sozialen Integration, ihren politischen Präferenzen oder allgemeinen demokratischen Werten zusammen. Das führt dazu, dass die Vergangenheit ständig in Bewegung ist – wie eine „endlose Sanduhr“, die die Gegenwart kontinuierlich umformt. Wahrnehmungen der Sowjetunion bleiben komplex. Negative Assoziationen politischer Repression stehen Seite an Seite mit nostalgischen Vorstellungen von wirtschaftlicher Stabilität. Die Wende wird überwiegend als positiver Wendepunkt gesehen, obwohl sie auch ungelöste Spannungen bei der Integration West- und Ostdeutschlands zum Vorschein bringt.
Es steht viel auf dem Spiel – der Kreml setzt historische Erinnerungen weiter als Waffe ein, um die öffentliche Meinung im Ausland zu beeinflussen. Dabei hat er insbesondere die zweite Generation mit (sowjet-)russischem Hintergrund im Visier, während einheimische politische Kräfte in Deutschland diese Narrative für ihre eigene Agenda ausnutzen. Gelingt es nicht, diesen Herausforderungen des Geschichtsrevisionismus etwas entgegenzusetzen, gerät nicht nur der Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern auch ihre demokratische Integrität in Gefahr.
[1] Der Begriff umfasst nicht nur Personen russischer Herkunft, sondern auch solche, deren Eltern in (Sowjet-)Russland aufgewachsen sind, bevor sie nach Deutschland auswanderten, sowie jüngere, in Deutschland aufgewachsene Generationen.
Dr. Hakob Matevosyan ist Soziologe und forscht am ZOiS im Rahmen des ERC-geförderten Projekts Moving Russia(ns): Weitergabe von Erinnerungen zwischen den Generationen im Ausland und in der Heimat (MoveMeRU).