Die ukrainische Populärkultur und der Krieg
Die Musikerinnen Alyona Alyona und Jerry Heil nutzen ihre Bekanntheit, um den ukrainischen Kampf gegen Russlands Angriff zu unterstützen. Dieses Jahr vertreten sie ihr Land beim Eurovision Song Contest. Seit Jahren hinterlässt die Ukraine markante Spuren im vermeintlich unpolitischen Musikwettbewerb.
Populärkultur ist für alle zugänglich. Sie ist allgemeinverständlich und macht Emotionen gemeinsam erlebbar. In der Ukraine ist die Populärkultur zu einem Schlachtfeld gegen die russische Aggression und zu einem entscheidenden Element kulturellen Widerstands geworden. Tatsächlich hat sich der Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion am 24. Februar 2022 für manche ukrainische Prominente als Wendepunkt erwiesen: Bis dahin waren viele von ihnen trotz der russischen Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen der Ukraine im Jahre 2014 an Politik nicht interessiert.
Seit Februar 2022 habe ich die Thematisierung des Krieges innerhalb des populärkulturellen Diskurses und auch den Diskurs über den Krieg in Onlinemedien beobachtet. Im Verlauf der letzten beiden Jahre haben viele Weltstars ihre Unterstützung für die Ukraine erklärt. Queen waren die erste Band, die mit Musik Geld für das Land aufgebracht haben. Nachdem Charkiw 2022 von russischen Truppen angegriffen wurde, veröffentlichte die Rockband das Video eines Konzerts, das sie 2008 in der Stadt gegeben hatte. Es folgten Solidaritätserklärungen von U2, Pink Floyd, Imagine Dragons, Måneskin, Scorpions, Madonna und vielen weiteren. Die Spendenplattform United24, die von der ukrainischen Regierung eingerichtet wurde, hat seit 2022 dank der Unterstützung solcher Prominenter mehr als 584 Millionen Euro aufgebracht.
Die Ukraine beim Eurovision Song Contest
Die Rolle der Populärkultur in der Ukraine wird am Beispiel des jährlich stattfindenden Eurovision Song Contest (ESC) deutlich. Dieser wurde 1956 erstmals ausgerichtet, um Europa nach dem Krieg durch den Genuss musikalischer Kreativität zu vereinen. Die Ukraine nimmt seit 2003 am Wettbewerb teil, und für viele Ukrainer*innen ist der ESC inzwischen zu einem Ort der Erinnerungen geworden. Den ersten Sieg errang die Ukraine im Jahr 2004, als das Lied „Wild Dances“ der Sängerin Ruslana die Möglichkeit bot, einen neuen ukrainischen Mythos zu erschaffen. 2007 nahm die Ukraine mit dem Beitrag „Lasha Tumbai“ der Drag-Sängerin Verka Serduchka teil. Der Titel des Liedes klang für Fans ähnlich wie „Russia, goodbye“, was dazu führte, dass das Lied in Russland für unerwünscht erklärt wurde.
Den zweiten ESC-Sieg erzielte die Ukraine 2016 mit Jamalas „1944“, ein Lied über die Deportation der Krimtatar*innen. Das Lied handelt vom Schicksal der Kriegsopfer, ohne dabei auf Mitleid abzuzielen. Gesungen von der Angehörigen einer ethnischen Minderheit, die unter dem totalitären Regime der Sowjetunion gelitten hatte, wurde es zu einem Manifest für den Kampf gegen Ungerechtigkeit. Es lud das Publikum dazu ein, Parallelen zur Gegenwart zu ziehen, da Russland 2014 einen Teil der Ukraine besetzte, die Krim annektierte und Krimtatar*innen auf der Halbinsel verfolgte. Anlässlich des 2017 von der Ukraine ausgerichteten ESC stellte der Soziologe Roch Dunin-Wąsowicz fest, der Wettbewerb habe die soft power der Kulturpolitik erfolgreich unter Beweis gestellt.
In den zwanzig Jahren seiner Teilnahme am ESC hat die Ukraine eine beeindruckende Reihe weiblicher Figuren präsentiert: die energetisch tanzende Amazone, die Betrügerin, die Tochter, die Schamanin und – als die Ukraine 2022 mit dem Song „Stefania“ von Kalush Orchestra erneut gewann – die Mutter. Im letzten Falle wurde der Archetyp dadurch repräsentiert, dass der Sohn das Lied vortrug. 2023 erreichte der Wettbewerb, der von Liverpool für die Ukraine ausgerichtet wurde, 162 Millionen Zuschauer*innen und brach damit den bisherigen Rekord.
Politisierung im Jahre 2024
Im diesjährigen ESC werden einige der auffälligsten Teilnehmenden von Ländern entsandt, die wegen politischer Ereignisse in den Nachrichten präsent sind. Wenigstens drei Teilnehmerländer – Aserbaidschan, Israel und die Ukraine – sind in aktuelle, zum Teil militärische, Konflikte verwickelt. Die Bilder, mit denen sich die ukrainischen Bewerberinnen Alyona Alyona und Jerry Heil präsentieren, sind ausdrucksstark und haben in sozialen Medien heftige Diskussionen ausgelöst, in denen stereotype Vorstellungen über weibliche Schönheit und die kontroverse Natur der von den Sängerinnen besungenen Charaktere Jungfrau Maria und Mutter Theresa verhandelt werden. Auch hat es leidenschaftliche Diskussionen darüber gegeben, ob die Kosten von umgerechnet 257.000 Euro einer Teilnahme am ESC für die Ukraine gerechtfertigt sind, während das Land Krieg führt.
Auf der anderen Seite sind sich die Ukrainer*innen darin einig, dass es nötig ist, ein Millionenpublikum zu erreichen. Alyona Alyona und Jerry Heil sind sich sowohl der Möglichkeiten als auch der Verantwortung, die mit der Teilnahme am ESC verbunden sind, bewusst. Beide haben die Ukraine seit Beginn der umfassenden Aggression Russlands aktiv unterstützt. Bei der ersten Probe für den ESC präsentierten sie ihren Beitrag in neuen Kostümen und vor einem Bühnenbild des berühmten ukrainischen Videoproduzenten Tanu Muiño, der bereits Videos für weltberühmte Stars wie Dua Lipa, Katy Perry, Jennifer Lopez, Lenny Kravitz und andere produziert hat. Sie präsentieren ein neues Bild der Ukraine, das für Viele ohne weiteres verständlich sein wird – zwei Pilgerinnen, die durch Feuer gehen.
Obwohl der ESC eine unpolitische Veranstaltung sein soll, wollen Alyona Alyona und Jerry Heil ihn als Plattform nutzen, um das Bewusstsein für den andauernden Krieg gegen ihr Land wachzuhalten, auch weil das öffentliche Interesse inzwischen nachgelassen hat. Vor allen Dingen aber wollen sie die Menschen mit ihrem Lied zusammenbringen. Schließlich dreht sich der ESC um das zentrale Narrativ, dass Einheit durch musikalische Kreativität möglich ist.
Olena Zinenko ist Fellow im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Ukraine Research Network@ZOiS.