Die ukrainische Widerstandskraft: verborgene Faktoren und potenzielle Risiken
Der Widerstand der Ukraine auf dem Schlachtfeld ist undenkbar ohne die Widerstandskraft ihrer Bürger*innen. Sie beruht auf einem seit 2014 gewachsenen Engagement der Zivilgesellschaft, das gesellschaftliche Veränderungen angestoßen und schließlich eine koordinierte Antwort auf die Invasion ermöglicht hat.
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Für viele Außenstehende war der kämpferische Widerstand der Ukraine gegen die umfassende russische Invasion ihres Landes, die vor einem Jahr begann, eine Überraschung. Diese erstaunliche ukrainische Widerstandskraft setzt sich aus einer Reihe von Puzzlestücken zusammen: von der Fähigkeit des ukrainischen Militärs, sich der „zweistärksten Armee der Welt“ entgegenzustellen, bis zum beispiellosen Zusammenhalt der Bürger*innen in und außerhalb der Ukraine. Einer der Hauptgründe für die Widerstandsfähigkeit der Ukraine, die vor dem 24. Februar 2022 sowohl von Russland als auch dem Westen nicht wirklich verstanden wurde, ist die Stärke der ukrainischen Zivilgesellschaft. Der Kreml hat die ukrainischen Bürger*innen und ihre Organisationen nie zur Kenntnis genommen, weder als mögliche Partner*innen noch als Widersacher*innen. Und während viele westliche Länder die Arbeit von NGOs zwar anerkannten, war ihnen dennoch nicht bewusst, welchen Beitrag diese für den Verteidigungssektor und die kritischen Reformen im Land leisteten.
Die Zivilgesellschaft als Katalysator für Reformen und Widerstand
Die Ukraine verfügt dem Civil Society Organisation Sustainability Index (CSOSI) und Freedom House zufolge über eine der am stärksten entwickelten Zivilgesellschaften in der Region. Nach dem Euromaidan 2013/14 nahmen nicht nur ukrainische Eliten, sondern auch große internationale Geldgeber*innen zivilgesellschaftliche Akteure als Beteiligte an Reformprozessen ernster. Seitdem hat das ehrenamtliche Engagement unter ukrainischen Bürger*innen kontinuierlich zugenommen. NGOs und Freiwillige waren 2014 für die ersten humanitären und militärischen Reaktionen auf die russische Besatzung der Krim und die Aggression im Donbas verantwortlich. Es ist also kein Wunder, dass diese Netzwerke auch 2022 im Widerstand eine führende Rolle einnahmen und ihre Erfahrungen und Erkenntnisse, welche praktischen Verfahren sich bewährt haben, mit Neueinsteiger*innen teilten. In weniger als einem Jahr wuchs die Zahl der Organisationen, die unter dem Dach der humanitären Hilfsmission der Vereinten Nationen in der Ukraine tätig sind, um das nahezu Sechsfache von 120 Anfang 2022 auf 700 Ende des Jahres, von denen 60 Prozent lokale NGOs waren. Dies macht deutlich, dass sich in der Ukraine schon vor dem Krieg eine lebendige Zivilgesellschaft entwickelt hatte.
Die von professionellen NGOs (von denen ein Drittel in der Hauptstadt Kiew registriert ist) und erfahrenen Freiwilligen gebildete Blase allein kann jedoch nicht erklären, warum die Ukraine eine solche Widerstandskraft gezeigt hat. Neben dem massiven Wachstum des zivilgesellschaftlichen Engagements und einer Welle von Aktivismus, die das Land 2022 ergriffen hat, wurde in den vergangenen Jahren das gesamte System von Beziehungen zwischen dem zivilen Sektor, der Privatwirtschaft und den staatlichen Institutionen umgestaltet. Einige dieser neuen Beziehungen sind das Ergebnis von Reformen der öffentlichen Dienste und des Bildungswesens sowie von Dezentralisierungs- und Digitalisierungsmaßnahmen, die nach dem Euromaidan eingeleitet wurden; andere wurden durch den aktuellen Krieg angestoßen.
Eine immer stärkere staatsbürgerliche Identität hat auch die Einstellungen der Ukrainer*innen zur russischen Sprache und zu russischen Medien und Kulturprodukten verändert. Seit dem 24. Februar 2022 sprechen immer mehr Ukrainer*innen Ukrainisch, während andere im Privaten weiterhin Russisch verwenden. Doch selbst unter Menschen, die Russisch sprechen, ist eine wachsende Mehrheit der Meinung, dass Ukrainisch weiterhin die einzige offizielle Landessprache bleiben sollte. Dieser Identitätswandel findet seine Ergänzung in einer breit verankerten staatsbürgerlichen Kultur, die sich im Verhalten der Menschen bemerkbar macht: Im Mai 2022 gab mehr als die Hälfte aller Bürger*innen an, Geld an die ukrainischen Streitkräfte oder humanitäre Initiativen gespendet, Binnenvertriebene unterstützt oder sich selbst als Freiwillige gemeldet zu haben. Ende des Jahres leisteten bis zu 20 Prozent der Ukrainer*innen auf einer kontinuierlichen Basis Freiwilligenarbeit.
Ukrainische Unternehmen wenden sich gesellschaftlichen Fragen zu
Während ukrainische Unternehmen mit den dramatischen wirtschaftlichen Folgen des Krieges und der Zerstörung des Stromnetzes zu kämpfen hatten, brachen sie über Nacht mit dem politischen Lobbyismus, den sie bisher gewöhnt waren, und schauten stärker auf die Bedürfnisse der Verbraucher*innen, Gemeinden und Streitkräfte. Neben wachsenden wirtschaftlichen Beziehungen zu den Mitgliedsstaaten der EU und einer Bereitschaft der Unternehmen, für Transparenz in ihren Geschäftsbeziehungen zu sorgen, könnte diese Tendenz unter Konzernen sowie kleinen und mittelständischen Unternehmen, sich gesellschaftlichen Problemen zuzuwenden, einem neuen sozioökonomischen System in der Ukraine den Weg bereiten, das die bisherige Vetternwirtschaft endgültig hinter sich lässt.
Während die überwältigende Unterstützung der Wähler*innen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj 2019 eine Mehrheit im Parlament und somit die Kontrolle über die Regierung sicherte, konnte er im Rahmen des Kriegsrechts seine Macht auch auf die lokalen Behörden ausweiten, die bis dahin aufgrund der kürzlich durchgeführten Dezentralisierungsreformen ein hohes Maß an wirtschaftlicher und politischer Autonomie genossen hatten. Obwohl Selenskyjs Partei bei den Kommunalwahlen 2020, die größtenteils regionale Kräfte an die Macht brachten, nicht so gut abgeschnitten hatte wie zuvor, hielt 2022 selbst in den besetzten Gebieten die Mehrheit der Bürgermeister*innen und Kommunalräte dem ukrainischen Staat die Treue. Der kumulative Effekt der Dezentralisierungsreformen, Wahlgesetzänderungen und gesellschaftliche Bestrebungen nach dem Euromaidan führte zum Aufstieg neuer Führungspersönlichkeiten (einschließlich Frauen und zivilgesellschaftlicher Aktivist*innen) in der Lokalpolitik, machte sie gleichzeitig aber auch gemeindeorientierter. Darin liegt ein weiterer Grund für den Widerstand entlang der Front und in den besetzten Städten, aber auch für die Standhaftigkeit westukrainischer Städte, die zu einer Drehscheibe für Binnenvertriebene, humanitäre Hilfsgüter und umgesiedelte Unternehmen geworden sind.
Mögliche Gefahren für die Widerstandsfähigkeit
Die Widerstandsfähigkeit, die die Ukraine im Jahr seit der umfassenden Invasion durch Russland gezeigt hat, sollte nicht als selbstverständlich betrachtet werden. Ein Burnout der Aktivist*innen in der Ukraine und eine zunehmende Kriegsmüdigkeit unter den westlichen Verbündeten sind reale Gefahren, die sich auf den Ausgang des Krieges und den auf ihn folgenden Wiederaufbau auswirken könnten. Die bisherige Massenmobilisierung, das wirtschaftliche Leben und die politische Konsolidierung könnten durch Korruptionsskandale, wachsende Armut, Ungleichheiten und den schon jetzt immensen Verlust an menschlichem Leben und Arbeitskräften in Gefahr geraten. Um nur ein Beispiel zu nennen, ist die Zahl von Menschen, die auf humanitäre Unterstützung angewiesen sind, von drei Millionen Anfang 2022 innerhalb weniger Monate auf fast 18 Millionen gestiegen. Falls es zu einer neuen russischen Militäroffensive kommt, könnte diese Zahl noch weiter steigen.
Bereits jetzt zeichnet sich durch die ungleiche Verteilung der Kriegslasten und die unterschiedliche Intensität der russischen Angriffe ab, welche Städte, Gesellschaftsgruppen, Wirtschaftsbereiche und politischen Akteure möglicherweise profitieren und welche zu den Verlierern gehören werden. Alte und neue Ungleichheiten könnten sich während des Wiederaufbauprozesses gegenseitig verstärken, was populistischen Kräften Auftrieb verschaffen und zu einem demokratischen Rollback in der Ukraine und anderen europäischen Gesellschaften führen könnte. Deshalb brauchen die Ukraine und ihre Partner nicht nur eine klare Vorstellung davon, wie der Sieg, den sie anstreben, aussehen würde, sondern auch eine Vision für den Wiederaufbauprozess, die inklusiv, egalitär und transparent ist.
Die Politikwissenschaftlerin Dr. Yuliya Bidenko ist Gastwissenschaftlerin im Projekt Ukraine Research Network@ZOiS.