Spotlight on Ukraine 6

Die ungewisse Situation ukrainischer Geflüchteter

Von Natalia Zaika 24.04.2024

Eine Umfrage unter ukrainischen Geflüchteten in Polen zeigt, wie schwer viele sich mit der Frage tun, ob und wann sie in ihre Heimat zurückkehren sollen. Eine große Rolle spielt dabei, wie lange der Krieg noch dauern wird und ob es der Ukraine gelingen wird, die besetzten Gebiete zurückzuerobern.

Eine aus der Ukraine geflüchtete Mutter mit ihren Kindern in Warschau, Polen. IMAGO / TT

Aus dem Englischen übersetzt von Michael G. Esch.

Für ukrainische Geflüchtete weltweit ist die Entscheidung, ob und wann sie nach Hause zurückzukehren, sowohl zentral für ihre Zukunft als auch mit enormer Unsicherheit verbunden. Mehr als zwei Jahre nach Russlands vollumfänglicher Invasion der Ukraine haben verschiedene Studien den Versuch unternommen, die Wahrscheinlichkeit dafür auszuloten, dass die Geflüchteten in ihre Heimat zurückkehren oder sich dauerhaft im Ausland niederlassen. Eine große Herausforderung für diese Studien besteht darin, dass die Geflüchteten sich selbst über eine Rückkehr im Unklaren sind. Je nachdem, wie die Frage nach einer Rückkehrabsicht in die Ukraine formuliert wird, antworten 20 bis 30 Prozent der Befragten mit „Ich weiß nicht“.

Unvorhersehbare Zukunft

Im Dezember 2023 befragte das Institut für Verhaltensforschung an der Amerikanischen Universität Kyjiw ukrainische Geflüchtete und Migrant*innen in Polen über ihre Pläne hinsichtlich des künftigen Aufenthaltsortes. Um einen umfassenden Überblick über diese Pläne zu erhalten, wurden die Teilnehmenden gefragt, ob sie den folgenden Aussagen zustimmen würden:

  • Ich habe vor, so rasch wie möglich in die Ukraine zurückzukehren.
  • Ich habe in absehbarer Zukunft vor, in die Ukraine zurückzukehren.
  • Ich habe vor, irgendwann in die Ukraine zurückzukehren.
  • Ich würde gerne Zeit in der Ukraine verbringen, zum Beispiel in den Ferien, aber in Polen leben.
  • Ich habe vor, in Polen zu bleiben.

Die Befragten sollten diese Feststellungen auf einer Skala von 1 (vollständige Ablehnung) bis 7 (vollständige Zustimmung) bewerten, wobei eine mittlere Wertung von 4 als „Vielleicht“ oder „Ich weiß nicht“ aufgefasst wurde. Eine Clusteranalyse brachte drei verschiedene Gruppen zum Vorschein: 1) diejenigen, die nach Hause zurückwollten (45 Prozent), 2) diejenigen, die dahin tendierten, nicht zurückzugehen (20 Prozent), sowie 3) die Unentschlossenen (35 Prozent). Die Angehörigen der letzten, von Unsicherheit geprägten Gruppe, sind von großem Interesse für die Aufnahmeländer, weil die Unentschiedenheit dieser Geflüchteten ihre Fähigkeit einschränkt, sich langfristig für etwas zu verpflichten und sich vollständig integrieren.

Die unentschlossene Gruppe zögerte auf mehreren Ebenen: 47 Prozent waren unsicher, ob sie so rasch wie möglich zurückkehren wollten, und 41 Prozent darüber, ob sie dies in nächster Zukunft tun würden. Von denjenigen, die eine klarere Vorstellung hinsichtlich ihrer Rückkehr hatten, ob positiv oder negativ, wählten nur 4-6 Prozent bei diesen beiden Fragen die Option „Ich weiß nicht“. Bei der Frage nach einer Rückkehr in fernerer Zukunft waren lediglich 18 Prozent der Gruppe der Unentschiedenen unsicher, während 77 Prozent sich in unterschiedlichem Grade zustimmend äußerten. Während also die meisten Geflüchteten den Wunsch äußerten, irgendwann einmal in die Ukraine zurückzukehren, blieben ihre Pläne für die unmittelbare Zukunft unbestimmt.

Zudem war sich ein beträchtlicher Anteil der Befragten, die hinsichtlich einer Rückkehr zögerlich waren (39 Prozent), darüber im Unklaren, ob sie auf Dauer in Polen bleiben wollten, aber lediglich 12 bzw. 16 Prozent in den beiden anderen Gruppen.

Emotionale Auswirkungen von Unentschlossenheit

Diese Unentschlossenheit spiegelte sich auch im emotionalen Zustand der Befragten wider. So zeigte etwa die Gruppe der Unentschiedenen das höchste Maß an Angst und Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft zeigte (Tabelle 1). Gefragt wurde, wie oft auf einer Skala von 1 (niemals) bis 5 (immer) sie solche Gefühle empfanden.

Tabelle 1: Durchschnittliche Häufigkeit von Angst- und Unsicherheitsgefühlen bei Geflüchteten

Rückkehrabsicht in die Ukraine

Zukunftsangst

Unsicherheit über die Zukunft

Unentschieden

3.99

4.06

Ja

3.88

3.93

Nein

3.58

3.66

Die Sorgen der Befragten zeigten sich auch bei der Frage, wann und wie der Krieg in der Ukraine enden werde: Eine Mehrheit hielt sich für außerstande, über ein solches Ende zu spekulieren. Von den Befragten beantworteten 54 Prozent die Frage „Wann wird der Krieg Ihrer Meinung nach enden?“ mit „Ich weiß es nicht“, und 36 Prozent äußerten Unsicherheit auf die Frage „Wird die Ukraine in der Lage sein, die besetzten Gebiete zurückzugewinnen?“ In beiden Fällen war „Ich weiß es nicht“ die am häufigsten gewählte Antwort.

Demographisches Profil: Gesichter der Unsicherheit

Innerhalb der Kohorte der Unentschiedenen bildeten Frauen im Alter von 30 bis 39 Jahren mit 45 Prozent der Befragten die größte Gruppe. Viele dieser Frauen waren zum Zeitpunkt der Befragung verheiratet und lebten mit ihrem Partner zusammen (28 Prozent), aber ein beträchtlicher Anteil (17 Prozent) war verheiratet und lebte getrennt. Die Mehrheit hatte Kinder, die Fernunterricht an ukrainischen Schulen belegten. Die meisten waren in Polen erwerbstätig (58 Prozent) oder arbeiteten auf Distanz für ukrainische Firmen (13 Prozent). Damit ergibt sich bei den Unentschlossenen eine höhere Beschäftigungsrate als bei denen mit klaren Absichten.

Insgesamt ist der typische unentschlossene ukrainische Geflüchtete in Polen eine erwerbstätige Frau in ihren Dreißigern, die aus der östlichen oder südlichen Ukraine stammt und abhängige Kinder hat, die an ukrainischem Fernunterricht teilnehmen. Ihr Zögern, nach Hause zurückzukehren, hängt mit der Sorge über das Ende des Krieges und der vorherrschenden Angst und Unsicherheit über die Zukunft zusammen.


Natalia Zaika arbeitet am Institut für Verhaltensforschung an der Amerikanischen Universität Kyjiw und war bis Februar 2024 Fellow am vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Ukraine Research Network@ZOiS.