Die wirtschaftlichen Folgen des russischen Krieges für binnenvertriebene Frauen in der Ukraine
Die Ukraine leidet infolge des Krieges unter einer schweren Wirtschaftskrise. Im Juni 2023 war immer noch ein Viertel der zuvor Erwerbstätigen arbeitslos. Frauen sind dabei deutlich stärker betroffen als Männer. Eine Umfrage unter Binnenvertriebenen zeigt, welche Hürden ihre Rückkehr ins Berufsleben erschweren.
Die Ukraine leidet infolge der russischen Aggression unter der schwersten Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit des Landes. Nach Schätzungen des ukrainischen Ministeriums für die Reintegration der temporär besetzten Gebiete gab es im Februar 2023 etwa sieben Millionen Binnenvertriebene im Land. Eine noch unveröffentlichte Omnibusbefragung, die im März 2022 vom ukrainischen Forschungsinstitut Info Sapiens durchgeführt wurde, ergab, dass ein Drittel aller Ukrainer*innen, die vor dem Krieg über einen Arbeitsplatz verfügten, seit Beginn der Invasion ihren Job verloren haben. Das sind 6,4 Millionen Beschäftigte. Im September 2022 begann sich die Situation zu verbessern, allerdings waren im Juni 2023 immer noch 24 Prozent aller zuvor erwerbstätigen Ukrainer*innen (4,8 Millionen Menschen) aufgrund des umfassenden Krieges arbeitslos.
Wer hat am meisten gelitten und warum?
Einer weiteren im März 2023 im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) durchgeführten Info Sapiens-Umfrage zufolge sind binnenvertriebene Frauen in der Ukraine stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als andere Gruppen. Die Hälfte unter ihnen, die vor dem Krieg über einen Arbeitsplatz verfügten, verlor im Zuge der russischen Aggression ihren Job (Abbildung 1). Unter den binnenvertriebenen Männern waren es im Vergleich dazu 28 Prozent und innerhalb der lokalen Bevölkerung, die ihren ursprünglichen Wohnort im Zuge des Krieges nicht verlassen hat, weniger als 20 Prozent.
Abbildung 1
Durch den massiven Verlust an Arbeitsplätzen sind binnenvertriebene Frauen die finanziell am stärksten gefährdete Gruppe: 59 Prozent müssen für Grundbedürfnisse wie Lebensmittel und Kleidung sparen, verglichen mit 51 Prozent der lokalen Frauen sowie 40 Prozent der binnenvertriebenen und 35 Prozent der lokalen Männer (Abbildung 2).
Abbildung 2
Angesichts der Ungewissheit, wo sie in Zukunft leben werden, suchen einige der arbeitslosen Frauen nicht nach einem neuen Job. Die Hälfte der binnenvertriebenen Frauen plant, innerhalb der nächsten sechs bis zwölf Monate den Wohnort zu wechseln. Nicht in allen Gemeinden und Städten gibt es Kindergärten und der Schulunterricht findet häufig nur online statt. Mütter haben also nicht die Möglichkeit, ihre Kinder zuhause zu lassen, um zur Arbeit zu gehen. Ein Fünftel aller arbeitslosen binnenvertriebenen Frauen hat außerdem Schwierigkeiten, zu pendeln, unter anderem, da es in manchen Fällen an Verkehrsmöglichkeiten mangelt. Unter den Arbeitssuchenden gibt es deshalb eine hohe Nachfrage nach Remote Work und flexiblen Arbeitszeiten. Gleichzeitig beklagten sich fünf Prozent der arbeitslosen binnenvertriebenen Frauen in der Umfrage über fehlenden Internetzugang.
Wer nach einem Job sucht, ist mit einem Mangel an freien Stellen und Ungleichgewichten auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert: An ihrem Wohnort finden hochqualifizierte Fachkräfte keine Arbeit, die ihrem Bildungsstand und ihrer Berufserfahrung entspricht. Häufig sind sie nicht bereit, in niedrigeren Positionen zu arbeiten oder sich umzuschulen. Ein Großteil der Beschäftigten, die manuelle Arbeit verrichten, war indes lange Zeit in spezialisierten Fertigungsbetrieben tätig und ist nicht in der Lage, passende Beschäftigungsmöglichkeiten in derselben Region zu finden. Sie müssten einen neuen Beruf erlernen, wozu ihnen jedoch teilweise die Motivation fehlt.
Eine von zehn arbeitslosen Frauen gab an, aufgrund ihrer schlechten psychischen Gesundheit, unter anderem wegen Depressionen und Apathiezuständen, keine Arbeit finden zu können. Etwa der gleiche Anteil an Frauen gab an, dass auch Diskriminierung eine Rolle spiele: Arbeitgeber*innen befürchten offenbar, dass Frauen mit Kindern sich häufig krankschreiben lassen, und bevorzugen deshalb ungebundene und jüngere Fachkräfte.
Auch Qualifikationsmangel steht den arbeitslosen binnenvertriebenen Frauen im Wege, darunter vor allem unzureichende Kenntnisse der englischen oder ukrainischen Sprache. Letzteres ist vor allem in den westlichen und nördlichen Regionen der Ukraine von großer Bedeutung, wo fast die gesamte Bevölkerung Ukrainisch spricht, während andere Regionen über russischsprachige Minderheiten verfügen.
Wie können Menschen sich wieder ein Einkommen verschaffen?
Doch trotz dieser Herausforderungen haben viele Ukrainer*innen Strategien entwickelt, um sich wieder ein Einkommen zu sichern:
- Berufswechsel: Einer weiteren unveröffentlichten Info Sapiens-Umfrage zufolge, die im Juni 2023 im Auftrag des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) durchgeführt wurde, haben 17 Prozent der ukrainischen Arbeitskräfte nach dem Beginn der umfassenden russischen Aggression den Beruf gewechselt, hauptsächlich um wieder ein Einkommen zu besitzen und von flexibleren Arbeitsmöglichkeiten zu profitieren. Von denjenigen, die ihren Arbeitsplatz gewechselt haben, gingen 57 Prozent vor der Invasion einer handwerklichen Tätigkeit nach. Mittlerweile sind es 63 Prozent – die Nachfrage nach diesen Berufen ist also infolge der Invasion gestiegen. Unter den neuen Berufen sind Baufachleute sowie medizinische und handwerkliche Tätigkeiten am stärksten vertreten – Berufe also, die für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg sehr gefragt sind.
- Teilzeitbeschäftigung: Ergebnissen der Umfrage vom März 2023 zufolge ist der Anteil der Beschäftigten in Teilzeit unter den erwerbstätigen Frauen von 14 auf 26 Prozent gestiegen, während der Anteil der Vollzeitbeschäftigten und Selbstständigen infolge des Kriegs gesunken ist.
- Remote Work: Dreißig Prozent der binnenvertriebenen Frauen in der Ukraine arbeiten remote, verglichen mit 15 Prozent der binnenvertriebenen Männer, 7 Prozent der lokalen Frauen und 5 Prozent der lokalen Männer.
- Sozialleistungen und humanitäre Hilfsgelder: Binnenvertriebene Frauen sind stärker als andere Gruppen auf Zuwendungen für Binnenvertriebene und andere Sozialleistungen sowie humanitäre Hilfen angewiesen. Sozialleistungen und humanitäre Hilfen stellen im Durchschnitt 59 Prozent des Haushaltsbudgets binnenvertriebener Frauen, verglichen mit 42 bei binnenvertriebenen Männern, 44 bei lokalen Frauen und 36 Prozent bei lokalen Männern.
Was können Geber tun, um zu helfen?
Um den Wiederaufbau der Ukraine zu unterstützen, sollten Geber einen stärkeren Fokus auf Beschäftigungsmöglichkeiten legen. Erstens sollten sie sich darauf konzentrieren, die Beschäftigung von Binnenvertriebenen, insbesondere Frauen, zu fördern, vor allem in den südlichen und östlichen Regionen des Landes. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es wichtig, die Zusammenarbeit der Arbeitsagenturen mit NGOs zu stärken, die sich auf Binnenvertriebene und andere vulnerable Gruppen konzentrieren.
Wichtig ist außerdem die Förderung von Schulungen, die in Zusammenarbeit mit Arbeitgeber*innen entwickelt werden, Praktikumsprogrammen, lokalen Berufsorientierungsprojekten und Kursen zu Berufsfeldern, die Remote Work und flexible Arbeitszeiten erlauben. Ein weiterer Schwerpunkt sollte auf Lehrgängen liegen, in denen unternehmerische Fähigkeiten vermittelt werden, da eine von zehn binnenvertriebenen Frauen ein Interesse daran besitzt, die eigenen Kompetenzen auf diesem Gebiet auszubauen. Teil der Initiativen sollte es auch sein, psychologische Hilfe und Kinderbetreuungsmöglichkeiten bereitzustellen. Zu guter Letzt ist die Förderung von Antidiskriminierungsprojekten essenziell, um insbesondere Altersiskriminierung zu bekämpfen.
Ein mögliches Unterstützungsformat sind Mikrozuschüsse für Ausbildung, Internetzugang, Kinderbetreuung sowie die Gründung und Entwicklung von Unternehmen. Mit Stand vom März 2023 hatten jedoch nur ein Prozent der binnenvertriebenen Frauen und ein Prozent der binnenvertriebenen Männer im vergangenen Jahr Umschulungsmöglichkeiten und/oder Förderprojekte für kleine und mittelständische Unternehmen in Anspruch genommen (Abbildung 3).
Abbildung 3
Diese Statistiken verdeutlichen, dass bestehende Initiativen ausgebaut werden müssen, um spürbare Veränderungen zugunsten der binnenvertriebenen Bevölkerung in der Ukraine und des langfristigen wirtschaftlichen Wohlergehens des Landes sicherzustellen.
Inna Volosevych ist stellvertretende Direktorin der ukrainischen Forschungsagentur Info Sapiens und aktuell Gastwissenschaftlerin im Ukraine Research Network@ZOiS.