Evakuierungsentscheidungen: Lehren aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine
Eine Umfrage unter Ukrainer*innen in der Ukraine zeigt, dass ein Bewusstsein für die mit Krieg verbundenen Risiken die Menschen nicht automatisch zur Evakuierung bewegt. Die Formulierung von Evakuierungsbenachrichtigungen ist daher wichtig. Botschaften mit klaren Anweisungen werden eher beherzigt.
Aus dem Englischen übersetzt von Michael G. Esch.
Trotz zahlreicher Medienberichte über die Möglichkeit einer Invasion hatten lediglich 28% der Ukrainer*innen den Angriff Russlands erwartet. Kaum 15% hatten sich vor dem 24. Februar 2022 darüber Gedanken gemacht, wohin sie im Notfall gehen könnten. Gleichwohl zwangen die rasche militärische Eskalation und der Umfang des Angriffs in den ersten fünf Monaten des Krieges 38% der ukrainischen Bevölkerung dazu, ihre unmittelbare Heimat zu verlassen. Dies sind die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von etwa 2000 Personen aus Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern, die im Juli 2022 vom Institut für Verhaltensforschung an der Amerikanischen Universität Kyjiw in den zehn am meisten vom Krieg betroffenen ukrainischen Oblasten durchgeführt wurde (Abb. 1 und 2). Bei den Befragten handelte es sich um eine Mischung aus Personen, die evakuiert wurden, und Personen, die sich entschieden, zu bleiben.
Risikoeinschätzungen
Trotz der offensichtlichen Gefahren des Krieges blieben viele Menschen zu Hause. Die wichtigsten und offensichtlichsten Faktoren, die die Entscheidung zu bleiben oder zu gehen beeinflussten, waren sozialdemographischer Natur: Frauen, Verheiratete und Familien mit Kindern tendierten eher dazu, sich in Sicherheit zu bringen als andere Gruppen. Personen mit höherer Bildung oder mit höheren Einkommen sowie Autobesitzer*innen waren ebenfalls eher geneigt, fortzugehen. Umgekehrt entschlossen sich ältere Menschen und Personen mit großen Familien häufiger dazu, zu bleiben.
Wir gingen anfangs davon aus, dass die Entscheidung zur Evakuierung von den Risikoeinschätzungen der Individuen abhängen würde; dies legen Studien über Evakuierungen nach Naturkatastrophen nahe. Tatsächlich ergaben die Daten aus der ukrainischen Umfrage jedoch ein anderes Bild.
Die Befragten sollten unter anderem die Wahrscheinlichkeit folgender Szenarien einschätzen, die bei einem Verbleib in der Heimatstadt eintreten könnten.
- Ich oder einer meiner Angehörigen wird getötet oder schwer verletzt.
- Kriminelle Taten wie Gewalt, Vergewaltigung oder Raub werden gegen mich oder meine Familie verübt.
- Ich werde Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Lebensmitteln, Trinkwasser oder Medizin haben.
- Ich werde nicht mehr mit Strom, Wasser oder Gas beliefert.
- Ich werde mich unter Besatzung wiederfinden, weil meine Stadt in die Hände der russischen Armee oder der von Russland unterstützten Separatisten fällt.
- Ich werde infolge der Zerstörung oder Beschädigung meines Hauses verletzt oder getötet.
Anders als vermutet stellte sich heraus, dass sich die Befragten über die hohen Risiken, die mit militärischen Aktionen verbunden sind, durchaus im Klaren waren (Tabelle 1). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass dieses Bewusstsein bei den Befragten, die evakuiert wurden, durchweg stärker ausgeprägt war. Sie schätzten das Risiko von Tod oder Verletzung höher ein als andere Befragte. Aber andere Risiken, wie die Zerstörung des eigenen Hauses, waren bei denjenigen, die geblieben waren, stärker ausgeprägt. Beide Gruppen bewerteten das Risiko von Gewalt oder Raub ähnlich. All dies deutet darauf hin, dass die Risikoeinschätzung kein entscheidender Faktor für die Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben, war.
Diese Ergebnisse implizieren damit auch, dass die Betonung von Risiken wenig effektiv ist, wenn man Menschen davon überzeugen will, sich in Sicherheit zu bringen: Sie sind sich dieser Risiken bereits bewusst. Im Rahmen der Umfrage gab es zudem ein Experiment: Die Befragten sollten die Wirksamkeit von zehn Evakuierungsaufforderungen einschätzen, die jeweils ein anderes motivationales Framing hatten und entweder einen spezifischen Evakuierungsplan enthielten oder nicht. Jede*r Befragte erhielt eine solche Aufforderung, die auf einer Skala von 0 bis 10 beurteilt werden sollte.
Das Ergebnis war, dass das motivationale Framing die Wirksamkeit nicht wesentlich beeinflusste. Dieser Befund passt zu der Feststellung, dass die Menschen die Gefahren sehr wohl verstehen und sie von daher keiner zusätzlichen Motivation von außen bedürfen. Dagegen bewirkte die Formulierung eines praktischen Evakuierungsplans einen statistisch signifikanten Unterschied, indem sie die durchschnittliche Wirksamkeit von 6,5 auf 7,25 anhob.
Die Bedeutung des Planens
Von entscheidender Wichtigkeit ist die Planbarkeit auch in den Verhaltensweisen derer, die sich tatsächlich in Sicherheit gebracht haben. Unter den Befragten, die bereits vor der Invasion einen Plan für eine eventuelle Evakuierung gemacht hatten, verließen 59% ihre Heimatstadt – gegenüber nur 36% derer, die nicht über einen solchen Plan verfügten. Zwar könnten wir es hier mit einer Autoselektion zu tun haben, da diejenigen, die ohnedies zu einer Evakuierung tendieren, eher einen solchen Plan machen. Gleichwohl können wir schließen, dass das Vorhandensein eines Plans die Entscheidungsfindung erleichtert. Es scheint also angezeigt, die Menschen beim Versuch der Evakuierung aus Kriegsgebieten zunächst dazu zu ermutigen, einen solchen Plan zu machen und ihre Habseligkeiten zu ordnen, und sie dann kurz darauf zur Abreise aufzufordern. Eine solche zweistufige Herangehensweise wird in Situationen, in denen eine Stadt sich auf der Frontlinie befindet und heftigen Bombardements ausgesetzt ist, kaum möglich sein. Sie könnte sich aber in Gebieten empfehlen, in denen die Evakuierung vorerst nur eine Option darstellt.
Wenn also Regierungen, internationale Organisationen, NGOs oder freiwillige Helfer*innen Menschen aus Kriegsgebieten evakuieren wollen und auf Widerwillen stoßen, sollten sie einige Aspekte im Gedächtnis behalten, die einige Individuen von einer solchen Evakuierung überzeugen könnten. Erstens: Die Betonung der Gefahren eines Verbleibens ist nicht hilfreich, da das Bewusstsein über diese Gefahren bei vielen Menschen keine Rolle dafür spielt, ob sie sich evakuieren lassen oder nicht. Zweitens: Stattdessen benötigen die Menschen einfache und klare Instruktionen zur Evakuierung, einschließlich Einzelheiten über den Transport, Listen mitzunehmender Gegenstände, Anlaufstellen und Informationen darüber, welche Hilfe (medizinische Versorgung, Unterkunft, Lebensmittel und Geld) sie erwarten können. Diese Informationen bieten ein Quentchen an Planungssicherheit in einer insgesamt unsicheren Situation.
Wenn die militärische Lage dies erlaubt, erleichtert es ein zweistufiges Vorgehen den Menschen, sich an den Gedanken der Evakuierung zu gewöhnen: Sie erhalten Gelegenheit, ihre Angelegenheiten zu ordnen, etwa Dokumente und Kleidung zusammenzupacken, bevor sie sich zu einem festgesetzten Zeitpunkt bereit erklären, aus der Gefahrenzone gebracht zu werden. Immerhin ist die Entscheidung, das eigene Heim zu verlassen, alles andere als einfach und hat weitreichende Konsequenzen für das eigene Leben.
Natalia Zaika arbeitet am Institut für Verhaltensforschung an der Amerikanischen Universität Kyjiw und ist Fellow am vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Ukraine Research Network@ZOiS.