Geografische Unterschiede in Erfahrungen ukrainischer Geflüchteter in Europa
Für ukrainische Geflüchtete unterscheiden sich Lebensumstände, Unterstützung, Kontakte zu Einheimischen, Sprachkenntnisse und Arbeitssituation je nach Aufnahmeland. Eine Studie vergleicht, wie Ukrainer*innen in verschiedenen Regionen Europas ihre Erfahrungen und Unterschiede zum Leben in der Ukraine bewerten.
Aus dem Englischen übersetzt von Michael G. Esch.
Fast zwei Jahre sind seit der vollumfänglichen russischen Invasion in die Ukraine, in deren Folge ukrainische Geflüchtete in ganz Europa Zuflucht gesucht haben, vergangen. Manche Ukrainer*innen haben seither mehrfach ihren Wohnort oder ihr Aufenthaltsland gewechselt, Fremdsprachen gelernt und sich Arbeitsstellen und Unterkunft besorgt, während andere in ihre Heimat zurückgekehrt sind.
Um die Unterschiede in den Erfahrungen von Ukrainer*innen in verschiedenen europäischen Ländern besser zu verstehen, hat die Forschungseinrichtung Rating Lab 2023 eine Umfrage unter 2.000 Ukrainer*innen in 31 europäischen Ländern durchgeführt. Für die Studie wurden diese Länder in vier Regionen eingeteilt: Nord-, West-, Ost- und Südeuropa (Abb. 1).
Abb. 1: Europäische Regionen in der Rating Lab-Untersuchung
Lebensbedingungen und Hilfe
Die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Geflüchteten sprach für alle vier Regionen von angenehmen Lebensbedingungen: 90 Prozent in Nordeuropa, 85 Prozent in Westeuropa, 84 Prozent in Osteuropa und 83 Prozent in Südeuropa. Größer waren die Unterschiede, wenn das Einkommen einbezogen wurde: Geflüchtete mit geringeren Einkommen erlebten ihre Lebensbedingungen als weniger angenehm als solche mit hohen Einkommen.
Deutlichere regionale Unterschiede gab es darin, wie die von den Aufnahmestaaten bereitgestellte Hilfe wahrgenommen wurde. Während die überwiegende Mehrheit (84 Prozent) der Befragten in West- und Nordeuropa die Unterstützung als hinreichend empfand, teilten nur 65 Prozent der Ukrainer*innen in Osteuropa und mit nur 47 Prozent noch deutlich weniger in Südeuropa diese positive Sichtweise.
Positive Wahrnehmungen in Nordeuropa waren auch mit einer verbesserten finanziellen Situation der Geflüchteten nach der Niederlassung in der Region verknüpft – ein Faktor, der von 53 Prozent der Befragten genannt wurde. Dagegen berichteten nur 29 Prozent der Befragten in Südeuropa von einem solchen Verbesserung.
Einstellungen der und gegenüber den lokalen Bevölkerungen
Das nördliche Europa sticht auch insofern heraus, als hier die herzlichsten Haltungen sowohl der Ukrainer*innen gegenüber der örtlichen Bevölkerung als auch umgekehrt festgehalten werden. Diese Herzlichkeit spiegelt sich im durchschnittlichen Einstellungsindex von +1.15 auf einer Skala von -2 bis +2 wider. Hingegen empfanden Ukrainer*innen die geringste Herzlichkeit in Osteuropa, wo die Haltung der Einheimischen ihnen gegenüber mit +0.4 bewertet wurde.
Interessanterweise berichteten Ukrainer*innen im östlichen Europa häufiger von Fällen, in denen ihnen eine Beschäftigung verwehrt wurde: 44 Prozent der Befragten in dieser Region hatten von solchen Fällen gehört gegenüber lediglich einem Drittel in den übrigen Regionen.
Auch unterschieden sich die Einstellungen zwischen verschiedenen Personengruppen: Ältere Geflüchtete, Frauen und Geflüchtete der ersten Welle nach der Invasion nahmen die Art und Weise, in der sie empfangen wurden, am positivsten wahr. Jüngere Personen, Männer und Neuankömmlinge schätzten ihre Aufnahme dagegen eher neutral ein.
Sprachkenntnisse als Schlüssel zur Erwerbstätigkeit
Gemäß EU-Recht haben Ukrainer*innen, die gezwungen waren, ihr Land zu verlassen, das Recht, in der EU einer Arbeit nachzugehen. Und tatsächlich hat ein bedeutender Teil der Befragten im jeweiligen Aufnahmeland eine Beschäftigung gefunden. Die höchsten Beschäftigungsraten wurden in Ost- und Südeuropa mit 67 und 60 Prozent festgestellt. Gleichzeitig wies Westeuropa den höchsten Prozentsatz an Geflüchteten auf, die ein Studium aufgenommen haben. Insbesondere diejenigen, die in Westeuropa keine Beschäftigung hatten, waren am wenigsten an einer Jobsuche interessiert.
Aus der Studie geht auch hervor, dass Sprachkenntnisse ein entscheidender Faktor bei der Beschäftigungssuche sind. Mehr als 70 Prozent derjenigen, die die Landessprache fließend beherrschen, waren in Arbeit. Insgesamt am häufigsten vertreten waren Sprachkompetenzen in Süd- und Osteuropa, am seltensten hingegen in Nordeuropa, wo die Hälfte lediglich einige Wörter und Sätze in der Landessprache beherrschte. Interessanterweise wiesen West- und Nordeuropa die meisten Geflüchteten auf, die Sprachkurse besuchten, um ihre Kenntnisse zu erweitern.
Die Sprachbarriere bildet weiterhin und in allen Regionen das größte Hindernis bei der Suche nach Beschäftigung. Allerdings wurde dieses Problem häufiger von Befragten in Westeuropa angesprochen, während Phänomene wie unterbezahlte Arbeit und ein Unwillen von Einheimischen, Ukrainer*innen einzustellen, häufiger in Osteuropa erwähnt wurden.
Möglichkeiten im Vergleich
Im Vergleich der Ukraine mit den Aufenthaltsländern glaubten die Befragten, die Letzteren böten größere Möglichkeiten, insbesondere im Bereich Einkommen, soziale Sicherheit, Bürgerrechte und Freiheiten, Lebensstandard und Berufsaussichten.
Dagegen bewerteten die Befragten behördliche Online-Dienstleistungen in der Ukraine weitaus besser als im übrigen Europa. Ebenso empfanden sie finanzielle und Bankdienstleistungen in der Ukraine als vorteilhafter und die Aufnahmeländer, insbesondere in Westeuropa, als weitaus bürokratischer. Schließlich bewerteten die Befragten die Möglichkeiten, Geschäfte zu machen, in der Ukraine als etwas höher als in den Aufenthaltsländern.
Interessanterweise fanden die befragten Ukrainer*innen Zugänglichkeit und Qualität medizinischer Dienstleistungen in der Ukraine besser als sonst in Europa. Innerhalb Europas wurden der Osten und Norden etwas schlechter eingestuft als der Westen und Süden. Im Bereich der schulischen Bildung war das Bild gemischt: Die Befragten bewerteten die Vorschul- und Schulbildung in der Ukraine als besser, höhere Bildungseinrichtungen hingegen in den Aufnahmeländern. Insbesondere ukrainische Studierende an europäischen Universitäten tendierten zu der Auffassung, die höheren Bildungsmöglichkeiten in Europa seien besser.
Die Befragten bewerteten außerdem den Dienstleistungsbereich in der Ukraine, einschließlich Cafés, Einzelhandelsketten und die Schönheitsindustrie, höher. Lediglich im vom Tourismus abhängigen Südeuropa bewerteten die Ukrainer*innen diese Bereiche besser als im übrigen Europa. Onlinedienste im öffentlichen Sektor wurden in Nordeuropa als besser als in anderen Regionen angesehen, aber dennoch nicht so gut wie in der Ukraine. Gleichzeitig empfanden die Befragten das Angebot an Onlinediensten in Westeuropa am schlechtesten.
Die Achtung von Bürgerrechten und Freiheiten wird von den Befragten in allen europäischen Regionen im Vergleich zur Ukraine als besser empfunden, am besten in West- und Nordeuropa.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Erfahrungen ukrainischer Geflüchteter in den europäischen Regionen gemeinsame wie auch spezifische Herausforderungen aufweisen. Während die Lebensbedingungen insgesamt als angenehm angegeben werden, zeigen sich in den Einkommensunterschieden und der jeweiligen Wahrnehmung von Hilfsangeboten regionale Unterschiede. Auch Einstellungen gegenüber den Geflüchteten, an Sprachkenntnisse gebundene Beschäftigungsmöglichkeiten und die jeweilige Beurteilung von Dienstleistungen variieren von Land zu Land.
Tetiana Skrypchenko ist Fellow am vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Ukraine Research Network@ZOiS.