Spotlight on Ukraine 8

Gibt es eine russische Kirche in der Ukraine?

Von Andriy Fert 27.05.2024

Nach Jahren der engen Gemeinschaft erklärte die Ukrainische Orthodoxe Kirche am 27. Mai 2022 ihre Unabhängigkeit von Moskau. Interviews mit Mitgliedern dieser Kirche bestätigen nun, dass in den Gemeinden „prorussische“ Haltungen immer noch präsent sind. Wie aufrichtig war die Trennung?

Der Metropolit von Kyjiw und der Ukraine Onufrij in der Verklärungskathedrale in Odesa, die im Juli 2023 durch russische Bomben beschädigt wurde. IMAGO / ZUMA Wire

Aus dem Englischen übersetzt von Michael G. Esch.

In einem Park unter Bäumen steht eine Kirche mit Zwiebeltürmen. Kirchen dieser Art sind typisch für die Ukraine: Sie unterscheidet sich in nichts von anderen Gotteshäusern, angefangen bei den üblichen Ikonen über die kleine ukrainische Flagge an der Wand und den Gemeindenachrichten in ukrainischer Sprache bis hin zum Priester, der ein Gebet für den Sieg der Ukraine im Verteidigungskrieg gegen Russland spricht. Allerdings weist Google Maps Besucher*innen darauf hin, dass es sich hier um eine Gemeinde der „Russisch-Orthodoxen Kirche“ in der Ukraine handeln würde.

Diese religiöse Organisation, die offiziell Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) heißt, wird auch als „Kirche des Moskauer Patriarchats“, „Russisch-Orthodoxe Kirche in der Ukraine“ und sogar (in Anspielung auf den russischen Geheimdienst) als „FSB-Kirche“ bezeichnet.  Sie befand sich lange in Kirchengemeinschaft mit dem Patriarchat von Moskau, einem der Stützpfeiler des Regimes des russischen Präsidenten Wladimir Putin – und ist es laut ukrainischer Regierung immer noch.

Die Ukrainische Orthodoxe Kirche

Kurz nachdem Russland 2022 seinen vollumfänglichen Angriff auf die Ukraine begann, erklärte sich die UOK am 27. Mai 2022 für „vollständig unabhängig“ von Moskau. Die Glaubwürdigkeit dieses Schrittes wurde von vielen Staatsvertreter*innen, aber auch von Priestern der Kirche selbst in Zweifel gezogen. Es gibt eine ganze Serie von Ermittlungsverfahren gegen prominente Kleriker, hinzu kommen Berichte von Journalist*innen darüber, wie Russland ukrainische kirchliche Medien nutzt, um Falschinformationen zu verbreiten. Und auch innerhalb der Kirche äußert sich die Kirchenleitung ambivalent zu Russlands Agieren.

Am zweiten Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung der UOK von Moskau wird die Kirche von der ukrainischen Öffentlichkeit in zunehmendem Maße als prorussisch wahrgenommen. Einige öffentliche Personen gehen sogar so weit, alle Kleriker und Gläubigen in dieser Kirche als „prorussisch“ zu bezeichnen und sie zu beschuldigen, „Putin zu unterstützen“ und „der russischen Welt angehören zu wollen“. Wird eine solche pauschale Beschuldigung aber der Religionsgemeinschaft gerecht?

Prorussische Haltungen in der Kirche

„Was glauben Sie, wie viele in unserer Kirche für Russland sind?“ fragte mich ein älterer Priester im Rahmen einiger anonymisierter Tiefeninterviews und Gespräche, die ich mit Klerikern und Gemeindemitgliedern der UOK geführt habe, bevor er herausplatzt: „Vierzig Prozent!“ Auf diese Zahl kam er, nachdem er die Priester in seiner Diözese gefragt hatte, ob sie aus der Zuständigkeit der russischen Kirche austreten wollten. Diejenigen, die dies verneinten, sind seiner Meinung nach prorussisch.

Für einen von außen kommenden Forscher ist es unmöglich, Priester über die offiziellen Netzwerke der Diözese zu befragen. Es gibt daher keine Möglichkeit, diese Feststellung zu verifizieren. Gleichwohl erwähnen alle meine Gesprächspartner*innen, Menschen mit „prorussischen Ansichten“ in ihrer Kirche oder benachbarten Gemeinden zu kennen.

In einer Gemeinde verließen die ruskomirni oder die Unterstützer*innen der „russischen Welt“, wie sie der Gemeindevorstand nannte, im Jahre 2022 die Kirche, weil sie mit seiner Verdammung des russischen Patriarchen Kirill nicht übereinstimmten. „Die Hälfte unserer Gemeinde ist ausgetreten“, vertraut ein lokales Gemeindemitglied mir an. Ein anderes erklärt, diese seien in eine Gemeinde einige Blocks weiter gewechselt, wo der Gemeindevorstand für seine „Liebe zu Russland“ bekannt sei.

Eine andere Gemeinde hat einen ähnlichen Exodus erlebt. Gleichwohl sind so viele prorussische Gläubige geblieben, dass Gemeindemitglieder, die sich selbst als proukrainisch oder Patrioten sehen, verstimmt sind. In einer solchen Gemeinde sind laut einem Gemeindemitglied „alle alten Leute so“: Sie blockieren alle Versuche, die ukrainische Sprache anstelle des Altkirchenslawischen in den Gottesdienst einzuführen und bezweifeln, dass die russische Invasion tatsächlich stattfindet.

Was es bedeutet, prorussisch zu sein

Immer wenn Gesprächspartner*innen die Kategorisierung „prorussisch“ verwendeten, bat ich sie, genauer zu erläutern, was sie unter diesem Begriff verstehen. Es stellte sich heraus, dass der Begriff recht vage ist und eine ganze Spannbreite von Praktiken und Haltungen beschreibt.

Das offensichtlichste, von mehreren Interviewten aufgebrachte Kennzeichen für „prorussische Haltungen“ ist es, wenn die russische Aggression ganz oder teilweise geleugnet wird. Ein Mann führte Äußerungen wie „Russland wurde dazu provoziert, den Krieg zu beginnen“ oder „Die Ukraine bombardiert ihre eigenen Bürger“ an, die er von anderen Gemeindemitgliedern gehört hatte. Einige von ihnen haben die Kirche verlassen, weil der Priester Russland in einer Predigt als Aggressor bezeichnet hat. Es ist nicht möglich, diese Behauptungen zu prüfen, da Gemeindemitglieder nicht bereit sind, solche Fragen mit Außenstehenden zu diskutieren. Immerhin handelt es sich nach ukrainischem Recht um eine Straftat, die russische Aggression zu leugnen.

Ein anderes Gefühl, das Interviewte als prorussisch ansahen, ist das der Entfremdung. So jedenfalls drückt es ein Gemeindemitglied aus: „Viele fühlen sich vom Staat entfremdet.“ Sie sind mit einem Narrativ aufgewachsen, das die russische Nation als das „auserwählte Volk“ bezeichnet, und betrachten die russische Kultur als den Gipfel menschlicher Zivilisation. Dies hat zur Folge, sagt ein Priester, dass viele Menschen keine Verbindung zur Ukraine empfinden. Dabei sollte aber berücksichtigt werden, dass das Narrativ russischer Überlegenheit und ukrainischer Unterlegenheit seinen Ursprung nicht notwendigerweise in der Kirche hat, sondern größtenteils auf sowjetische und noch ältere Propaganda zurückgeht.

Daneben gibt es eine Gruppe von Kirchenmitgliedern, die – wie ein Priester betont – zwar „die russische Aggression nicht leugnen, aber der Auffassung sind, es solle nur eine Kirche [für Russen und Ukrainer] geben“. Diese Menschen berufen sich auf die Geschichte und führen an, es habe seit der Christianisierung der Kyjiwer Rus‛ im Mittelalter nur eine Kirche für beide Nationen gegeben (was, gelinde gesagt, nicht stimmt). Einige berufen sich auf Heilige, die angeblich die Ukrainer*innen aufgefordert hätten, niemals mit der russischen Kirche zu brechen.

Schließlich finden wir „prorussische“ Gemeindemitglieder, die einem Kleriker zufolge „glauben, dass die Ukraine auf einem Irrweg ist, als gebe es Forderungen der Weltfinanzelite und westlicher Länder, die traditionellen christlichen Werte und die Orthodoxie zu zerstören […] Sie lehnen die ukrainische Idee ab, weil sie glauben, die Ukraine liefere sich dem Westen aus […] Sie haben Angst vor dem, was die Russen tun, aber sie glauben, dass es mit dem Westen noch schlimmer kommen könnte“.

Eine Kirche im Wandel?

In der Kirche mit den Zwiebeltürmen erzählt mir der Priester, dass er schrittweise die ukrainische Sprache in den Gottesdienst einführt, um mehr junge Menschen für das Gebet zu gewinnen. Wir sprechen darüber, dass seine Kirche als russische bezeichnet wird, und er bekennt mit einem traurigen Lächeln, dass er nachvollziehen kann, warum Leute so denken: Die Kirchenoberen haben es versäumt, ihren Bruch mit Moskau in angemessener Weise zu kommunizieren und haben dabei versagt, ihre Unabhängigkeit auch flächendeckend durchzusetzen. Andererseits findet der Priester, dass die Leute manchmal zu viel in zu kurzer Zeit erwarten: „Meine Kirche wandelt sich, aber schrittweise, und das ist die einzige Möglichkeit, diesen Wandel nachhaltig lebendig werden zu lassen.“

Prorussische Personen und Haltungen stehen dem Wandel im Wege, finden viele Interviewte. Aber manchmal verstehen reguläre Kirchgänger*innen und Außenstehende unter „prorussisch“ etwas ganz anderes. So oder so scheint es, dass der Schatten der russischen Kirche – sei es in Form von Gemeindemitgliedern, die sich selbst oder andere als prorussisch oder nicht prorussisch etikettieren, sei es durch Außenstehende, die die Kirche als russische apostrophieren – die ukrainischen Gemeinden immer noch verfolgt.


Andriy Fert ist Dozent an der Kyiv School of Economics und Fellow am vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Ukraine Research Network@ZOiS