Herausforderungen und Chancen: Die feministische Bewegung in der kriegsgebeutelten Ukraine
Der Krieg hat den Einsatz für Frauenrechte und Genderthemen in der Ukraine an den Rand gedrängt. Auch die Bevölkerung ist bei geschlechtsspezifischen Fragen gespalten. Gleichzeitig eröffnet der Kampf der Ukraine für eine Identität auf Grundlage „westlicher“ Werte neue Wege, feministische Ideen voranzutreiben.
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Kein Krieg ist abgekoppelt von geschlechts- und genderspezifischen Fragen. Krieg wirkt sich auf Geschlechtervorstellungen, -beziehungen und -rollen sowie auf die gesellschaftliche Stellung von Frauen und Männern aus. Russlands Invasion in der Ukraine hat Frauen vor verschiedene Herausforderungen gestellt, darunter die Zunahme geschlechtsspezifischer Gewalt, wachsende Belastung durch unbezahlte Pflegearbeit (insbesondere für die Ehefrauen und Mütter verwundeter Soldaten) und die zunehmende Feminisierung der Armut.
Die meisten Geflüchteten sind Frauen mit Kindern. Weiblich dominierte Sektoren wie Bildung, Gesundheitswesen und Sozialarbeit, die für die Bewältigung der sozialen Folgen des Krieges von entscheidender Bedeutung sind, werden zunehmend belastet. Darüber hinaus hat die politische Repräsentation und Sichtbarkeit von Frauen in den Medien abgenommen. Die Auswirkungen des Kriegs machen also auch vor dem ukrainischen Feminismus nicht Halt. Wie können geschlechtsspezifische humanitäre Probleme angegangen, gefährdete Frauengruppen unterstützt, und wie kann sichergestellt werden, dass Frauenthemen nicht an den Rand gedrängt werden?
Als die Ukraine 2022 angegriffen wurde, hatte sie bereits staatliche Gleichstellungsrichtlinien eingeführt und Geschlechterunterschiede verringert. Es gab eine starke feministische Bewegung. 2024 feierte die Ukraine den 140. Jahrestag der Frauenbewegung im Land. Die ersten Organisationen, deren Ziele und Aktivitäten als feministisch definiert werden können, begannen ihre Arbeit in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre. Die Arbeit und ideologische Ausrichtung dieser Organisationen ist seitdem deutlich diverser geworden. In einer Umfrage der Ukrainian Women‘s Foundation aus dem Jahr 2024 empfanden nur 19 Prozent der 190 befragten Vertreter*innen feministischer Organisationen die Bewegung als noch in der Entstehungsphase befindlich, während 40 Prozent sie als ausgereift betrachteten.
Trotz der Fortschritte herrscht weiterhin Skepsis gegenüber dem Feminismus. Viele glauben, dass die Gleichstellung der Geschlechter bereits erreicht ist, und assoziieren Feminismus mit Radikalismus oder Männerfeindlichkeit. Es gibt jedoch zunehmend auch positive Einstellung gegenüber dem Feminismus, insbesondere bei jüngeren, urbanen und gebildeten Frauen. Die wachsende Beteiligung an den Internationalen Frauenmärschen, die von 2008 bis zum Krieg jährlich am 8. März in verschiedenen ukrainischen Städten stattfanden, könnte diesen Wandel widerspiegeln (seit Ausbrauch des Krieges sind Massenversammlungen verboten).
Hindernisse für den Feminismus
Der Krieg in der Ukraine hat den Feminismus im Land auf verschiedene Weise behindert. Erstens wurde eine geschlechtsspezifische Staatsbürgerschaftsordnung im Zusammenhang mit dem Militärdienst geschaffen. Seit 2014 sind Frauen in der Ukraine berechtigt, in der Berufsarmee zu dienen. Für Frauen ist der Militärdienst nicht obligatorisch, während Männer zum Dienst verpflichtet sind und ihre Rechte im Kriegsfall eingeschränkt sind. So ist es den meisten von ihnen beispielsweise verboten, ins Ausland zu reisen.
Die ukrainische Gesellschaft ist sich in der Frage des geschlechtsspezifischen Militärdienstes nicht einig. In einer repräsentativen nationalen Umfrage aus dem Jahr 2024 betrachteten 54 Prozent der Befragten die Verteidigung als „männliche“ Verantwortung, während 46 Prozent der Meinung waren, dass sowohl Männer als auch Frauen einbezogen werden sollten. Diese Situation erschwert den feministischen Dialog, insbesondere bei Diskussionen über die militärische Mobilisierung, und kann den öffentlichen Diskurs über feministische Themen schwieriger gestalten. Auch die Beteiligung von Männern an der Gleichstellungsbewegung wird dadurch behindert, da einige Männer sich fragen, ob Feministinnen die Wehrpflicht für Männer unterstützen oder sich für die Gleichstellung der Geschlechter in Fragen der Wehrpflicht einsetzen.
Zweitens werden, obwohl während oder nach dem Krieg in der Ukraine keine konservative Wende in geschlechtsspezifischen Fragen zu erwarten ist, die Interessen von Frauen im Zusammenhang mit sicherheitspolitischen Herausforderungen zurückgestellt. Ihr politischer Einfluss ist begrenzt. Der Krieg hat den Fokus des Landes auf das Überleben, die nationale Sicherheit und den wirtschaftlichen Wiederaufbau verlagert, wodurch die Gleichstellung der Geschlechter und umfassendere soziale Fragen zweitrangig erscheinen.
Darüber hinaus gibt es öffentliche Zensur, einschließlich Selbstzensur, bei Diskussionen über bestimmte Themen, die für die feministische Agenda wichtig sind. Dazu zählen etwa häusliche Gewalt in Veteranenfamilien oder sexuelle Belästigung beim Militär. Gründe dafür sind die Glorifizierung von Soldaten und die hohe Stellung des Militärs in Kriegszeiten.
Förderung feministischer Werte
Trotz dieser Herausforderungen gibt es mehrere Möglichkeiten, feministische Werte voranzutreiben, die mit dem geopolitischen Kontext des Krieges und der Sichtbarkeit neuer Rollen für Frauen zusammenhängen.
Erstens können die Erfordernisse für europäische Integration ein guter Ansatzpunkt sein, um feministische Werte und Maßnahmen voranzubringen. So hat die Ukraine beispielsweise 2011 das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, besser bekannt als Istanbul-Konvention, unterzeichnet. Doch trotz jahrelanger Lobbyarbeit der Frauenbewegung hat die Ukraine das Übereinkommen über ein Jahrzehnt lang nicht ratifiziert, weil konservative, religiöse Gruppen und Politiker sich dagegen aussprachen.
Im Juni 2022, kurz bevor der Ukraine der Status eines EU-Beitrittskandidaten gewährt wurde, ratifizierte das ukrainische Parlament unerwartet die Konvention. Dieser Schritt mag zwar instrumentalisiert worden sein, um Übereinstimmung mit der EU-Gleichstellungspolitik zu signalisieren und die europäische Identität der Ukraine zu bekräftigen, stellt aber dennoch eine wichtige Änderung in der offiziellen Haltung des Landes dar.
Zweitens bietet der Wunsch der Ukraine, sich von der kulturellen und politischen Agenda Russlands zu distanzieren, die Möglichkeit, die Gleichstellung der Geschlechter zu stärken und die Rechte von LGBTQ+ voranzutreiben. Anti-Gender-Rhetorik ist ein wesentlicher Bestandteil des Narrativs von der sogenannten russischen Welt, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine als kulturellen und ideologischen Kampf gegen die Gleichstellung der Geschlechter und „westliche Werte“ darstellt. In diesem Zusammenhang können Anti-Gender-Bewegungen in der Ukraine mit der kulturellen und politischen Agenda Russlands in Verbindung gebracht werden, was ihre politische und öffentliche Legitimität schmälern könnte.
Drittens hat der Krieg die Rolle der Frauen verändert. Die aktive Beteiligung von Frauen am militärischen Widerstand, ihre zunehmende Präsenz in traditionell männlichen Berufen und der Aufstieg von Frauen in Führungspositionen in Gemeinden und im Ehrenamt bieten bedeutende Möglichkeiten, traditionelle Geschlechterrollen in Frage zu stellen. Eine repräsentative Umfrage aus dem Jahr 2023 ergab, dass 80 Prozent der Ukrainer*innen das Bild eines Kriegsveteranen sowohl mit Männern als auch mit Frauen in Verbindung bringen. Gleichzeitig ist der Anteil der Ukrainer*innen, die glauben, dass „Männer bessere Führungskräfte sind als Frauen“, laut einer anderen Umfrage von 43 Prozent im Jahr 2021 auf 24 Prozent im Jahr 2023 gesunken.
Notwendige Wachsamkeit
Diese Veränderungen bieten einen fruchtbaren Boden für die Förderung feministischer Ideen und die Gleichstellung der Geschlechter in der vom Krieg zerrütteten ukrainischen Gesellschaft. Obwohl der Krieg für Frauen und die feministische Bewegung in der Ukraine dramatische Herausforderungen mit sich gebracht hat, bleibt die Bewegung ein aktiver und wichtiger Akteur für geschlechtsspezifische Veränderungen. Und obwohl es keine Anzeichen für eine konservative Genderwende in der Ukraine als Folge des Krieges gibt, sollten ukrainische Frauenorganisationen wachsam sein, um die erzielten Fortschritte nicht zu gefährden. Wie die Erfahrungen einiger demokratischer Länder zeigen, können solche Fortschritte leicht wieder verloren gehen, selbst wenn der Weg zur Gleichstellung der Geschlechter unumkehrbar erscheint.
Dr. Olena Strelnyk ist Fellow im Ukraine Research Network@ZOiS, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird, und arbeitet dort am Projekt „Seeing Invisible: (Gendered) Experiences of Family Elderly Care in Ukraine“.