ZOiS Spotlight 7/2024

Kinderliteraturen unter Druck

Von Nina Frieß 02.04.2024

Seit 1967 wird am 2. April der Internationale Kinderbuchtag mit Lesungen, Ausstellungen und Mitmachaktivitäten für Kinder und Jugendliche begangen. Doch nicht in allen Ländern gibt es Anlass zum Feiern. In Russland, Belarus und der Ukraine ist die Situation der Kinderliteratur aus unterschiedlichen Gründen prekär.

Ein verbranntes Kinderbuch nach einem russischen Bombenangriff in Charkiw, Ukraine, im Mai 2022. IMAGO / ZUMA Wire

Einstellungen und Werte insbesondere junger Menschen gelten als noch formbar. In kinderliterarischen Texten finden sich deshalb oft verdichtete Darstellungen von Inhalten und Weltanschauungen, die Gesellschaften an die Folgegenerationen weitergeben wollen. Damit hat Kinderliteratur nicht nur eine unterhaltende, sondern häufig auch eine didaktische Funktion, die in einem nationalsozialistischen Propagandaroman wie Karl Aloys Schenzingers „Hitlerjunge Quex“ (1932) anders ausfällt als in Astrid Lindgrens Klassiker „Pippi Langstrumpf“ (1945), der für kindliche Selbstbestimmung plädiert. Gleichzeitig ermöglichen kinderliterarische Verfahren, die der Fantasie kaum Grenzen setzen, versteckte Kritik an den herrschenden Verhältnissen und lassen alternative Gesellschaftsentwürfe aufscheinen. Gerade in nicht-demokratischen Gesellschaften kann Kinderliteratur deshalb eine Nische für einen verhältnismäßig freien Diskurs bieten.  

Zunehmende Zensur in Russland

In Russland schrumpfen die Räume für freien Diskurs seit Jahren. Das wird auch in der Kinderliteratur spürbar. Repressive Dekrete wie das 2021 erlassene Gesetz gegen Geschichtsfälschung, das unter anderem verbietet, sowjetische und nationalsozialistische Handlungen gleichzusetzen, wirken sich auch auf das Schreiben für Kinder aus. So wurde Olga Kolpakovas Kurzroman „Der Wermutstannenbaum“ (2017) nach einer als „Expertise getarnten Denunziation“ aus zahlreichen Bibliotheken im Ural entfernt und die Altersfreigabe von 12 auf 18 Jahre angehoben. Das Buch erzählt die Geschichte eines wolgadeutschen Mädchens, das während des Zweiten Weltkriegs aufgrund seiner Herkunft nach Sibirien verbannt wird und dort ums Überleben kämpft. Der Verfasser der „Expertise“, ein Dozent für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit an der Uraler Pädagogischen Universität, warf der Autorin vor, historische Fakten zu verfälschen und Stalin sowie weitere staatliche Vertreter zu verunglimpfen. „Historische Unwahrheiten“ verbreitet Kolpakovas Buch nicht, wohl aber zeichnet es ein Bild über das Leben in der Sowjetunion der 1940er Jahre, das dem im heutigen Russland dominierenden heroischen Narrativ über diese Zeit eklatant widerspricht.

Autor*innen und Verlage in Russland sind gezwungen, mögliche Gesetzesverstöße bereits während des Schreibprozesses und vor der Veröffentlichung von Texten mitzudenken. Neben der daraus fast zwangsläufig resultierenden inneren Zensur der Kulturschaffenden führt das zu teils bizarren formalen Maßnahmen, die Verlage ergreifen müssen, wenn sie sich mit einer Publikation nicht strafbar machen wollen. Beispielsweise veröffentlichte Russlands wichtigster Verlag für unabhängige Kinderliteratur Samokat im Jahr 2023 unter dem Titel „Wozu habt ihr euch hier versammelt?“ ein Sachbuch über Demokratie, das sich inhaltlich und sprachlich eindeutig an ein Zielpublikum ab etwa 12 Jahren richtet. Jedoch musste das Buch entsprechend dem Gesetz über den Schutz von Kindern vor Informationen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schaden mit der Altersfreigabe „18+“ versehen werden. Ausschlaggebend dürfte dafür gewesen sein, dass  das Gesetz auch verbietet, Informationen, „die ein rechtswidriges Verhalten rechtfertigen“, zu verbreiten. Das Kindersachbuch über Demokratie informiert über verschiedene Formen der Bürgerbeteiligung an Entscheidungsprozessen und nennt historische Beispiele zivilen Widerstands, der in Russland heute nicht mehr geduldet wird. Für den Verlag bedeutet die Kennzeichnung des Buchs als Erwachsenenlektüre, dass er es nicht zielgruppengerecht bewerben kann und wohl auch finanzielle Einbußen zu tragen hat. Denn viele Eltern dürften aufgrund der Altersbeschränkung davor zurückschrecken, das Buch für ihre Kinder zu erwerben.

Belarus: Massenemigration und Russifizierung

Auch in Belarus ist die Situation der Kinderliteratur angespannt. Seit den Massendemonstrationen gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen von 2020 geht das Regime mit aller Härte gegen jede Form des tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Protests vor. Auf der vom Belarusischen Informationsministerium herausgegebenen, seit 2020 stetig anwachsenden Liste von als extremistisch eingestuften Materialien finden sich inzwischen mindestens zwei Kinderbücher. Eines davon ist der sowjet-russische Klassiker „Ballade vom kleinen Schlepper“ (1962) des russisch-amerikanischen Literaturnobelpreisträgers Joseph Brodsky aus dem Jahr 2022. Grund für das Verbot des Buchs, das keinerlei Bezug zu Belarus aufweist, ist nach Angaben des inzwischen im Exil lebenden Verlegers Andrei Januschkewitsch, dass den Behörden die „Farbgebung des Schleppbootes in den Illustrationen verdächtig“ vorgekommen sei. In der belarusischen Buchausgabe ist der Schlepper weiß-rot-weiß dargestellt, also in den Farben der demokratischen Opposition des Landes.

Bedingt durch die massiven Repressionen des belarusischen Regimes haben seit 2020 hunderttausende Belarus*innen ihr Land verlassen, darunter zahlreiche Kulturschaffende. Verlage setzen ihre Arbeit in Polen oder Litauen fort, Engagierte organisieren im Exil Kinderliteraturfestivals und Wettbewerbe für Kinderliteratur und arbeiten an der Gründung einer belarusischen Exil-Sektion des Internationalen Kuratoriums für das Jugendbuch (IBBY). Doch diese Abwanderung verstärkt die ohnehin omnipräsente Russifizierung des Kulturbereichs in Belarus. Da es unmöglich ist, belarusische Exilliteratur offiziell nach Belarus einzuführen, und die Reisebedingungen für Belarus*innen zunehmend schwierig werden, ist das Gros der im Land verbliebenen Leser*innen von den im Exil stattfindenden Entwicklungen der belarusischen Kinderliteratur abgeschnitten.

Russische Bomben gegen ukrainische Kultur

Unter einer gänzlich anderen Art von Druck steht die ukrainische Kinderliteratur. Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg richtet sich immer wieder gezielt gegen Kulturgüter und kulturelle Einrichtungen in der Ukraine. So wurden nach Angaben der ukrainischen IBBY-Sektion  allein im ersten Kriegsjahr 60 Kinder- und Jugendbibliotheken beschädigt oder zerstört. Dennoch versuchen die Bibliothekar*innen den Betrieb aufrechtzuerhalten und Kindern damit ein Stück Normalität im Kriegsalltag anzubieten. Nahe der Frontlinie verlagern sie ihre Aktivitäten ob der Gefahrenlage allerdings häufig in den virtuellen Raum und haben ihr Angebot an E-Books und Hörbüchern ausgeweitet. Von den russischen Angriffen sind selbstredend auch Kultureinrichtungen und -veranstaltungen betroffen, die sich nicht gezielt an Kinder richten. Beispielsweise fand das Book Forum Lviv, die größte und älteste Buchmesse des Landes, 2022 in Form von online übertragenen Diskussionspanels aus einem Luftschutzraum statt. Auch die Buchproduktion bleibt vom Krieg nicht verschont, liegt das Zentrum des ukrainischen Buchdrucks doch im ostukrainischen Charkiw, wo Druckereien durch die anhaltende russische Bombardierung kaum noch arbeiten können.

So angespannt die Lage der Kinderliteratur in der Ukraine, Belarus und Russland ist, so zeigt sich doch in allen drei Fällen, dass es nach wie vor Autor*innen und Verleger*innen, Bibliothekar*innen und Leser*innen gibt, die sich trotz aller Widrigkeiten für das Fortbestehen einer freien und kreativen Kinderliteratur einsetzen. Sie sind es, die am Internationalen Kinderbuchtag am 2. April besonders gefeiert werden sollten.


Dr. Nina Frieß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und Mitbegründerin und -organisatorin des Kinderliterarischen Kolloquiums (KLK). Die Idee zu diesem Spotlight erhielt sie während des letzten Treffens des Kolloquiums im Dezember 2023, das sich dem Thema widmete. Für die Anregungen der Teilnehmer*innen möchte sie sich herzlich bedanken.