ZOiS Spotlight 15/2024

Online-Leben zwischen Deutschland und Russland

Von Sophia Winkler 23.07.2024

Russlands Krieg gegen die Ukraine wird parallel als Informationskrieg im digitalen Raum ausgetragen. Dabei setzt der Kreml soziale Medien als Werkzeug der Außenpolitik ein, um im Ausland die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Der deutsch-russische Online-Raum ist oft von gegensätzlichen Weltbildern geprägt.

IMAGO / Vozmilova Svetlana

“Im Geschichtsunterricht, wenn es um Vergewaltigungen deutscher Frauen durch die Rote Armee ging, glaubte ich, dringend diskutieren zu müssen, und schlug vor, uns doch über Konzentrationslager zu unterhalten, die Russen hätten zumindest keinem die Haut abgezogen, um daraus Lampenschirme zu machen. Ich verteidigte meine angebliche Heimat, an die ich mich kaum erinnern konnte, und balancierte zwischen zwei Formen des Nichtseins, des Russischseins und des Deutschseins, denn beides traf auf mich nicht zu und ich konnte meiner eigenen Meinung nach weder gut Russisch noch gut Deutsch.”

Auszug aus dem Roman „153 Formen des Nichtseins“, in dem Slata Roschal beschreibt, was es bedeuten kann, sich zwischen zwei Sprachen und Herkunftsländern der eigenen Identität bewusst zu werden.

Soziale Medien katalysieren Desinformationen und Propaganda. Gleichzeitig bieten sie aber auch eine Plattform, auf der Nutzer*innen Informationen austauschen, über Fake News aufklären und Solidaritätsnetzwerke bilden können. Deutsch-russische Influencer*innen stehen dabei zwischen den widersprüchlichen Haltungen beider Länder zu Geschichte, Gesellschaft und Weltordnung. Während manche die jeweiligen Staatsnarrative wiedergeben, nehmen andere ambivalent oder kritisch Stellung. Junge Nutzer*innen, die durch ihre Familiengeschichte oder Mehrsprachigkeit einen Russlandhintergrund haben, können sich beiden Ländern zugehörig oder ihnen fremd fühlen. Sie können aber auch irgendwo dazwischenstehen.

Im März 2023 erließ der Kreml ein neues Konzept für seine außenpolitische Strategie. Ein zentraler Ankerpunkt des Papiers sind die sogenannten Landsleute im Ausland. Dabei spielt die geopolitische Konzeption der Russischen Welt („Russkij Mir“) eine wesentliche Rolle: Russ*innen sind all jene Menschen, die sich prorussisch im Sinne des Kremls positionieren. Diese gilt es zu schützen und ihre gesamtrussische kulturelle Identität aufrechtzuerhalten. Sie werden dadurch zur Drehscheibe für die systematische Verbreitung von scheinhistorischen Begründungen für Russlands Platz in der Welt aufgrund seines Sieges im Zweiten Weltkrieg und der dadurch angeblich entstandenen Aufgabe, eine Weltordnung nach russischen Interessen sicherzustellen. Im Gegensatz dazu werden Regimegegner*innen und Deserteur*innen als Verräter*innen der Heimat dargestellt.

Studien zeigen, dass der Informationsfluss aus der postsowjetischen Region nach Deutschland antiliberale und antiwestliche Positionen fördert. Rechte und rechtsradikale Alternativmedien in Deutschland übernehmen häufig Kreml-Narrative und richten sich an ein Publikum, das für russische Staatsdiskurse empfänglich ist. Deutsch-russische Kreml-nahe Social-Media-Kanäle greifen diese Inhalte auf.

Pro-Kreml-Akteur*innen im deutsch-russischen Social-Media-Raum

Man stößt in den sozialen Netzwerken in Deutschland (Telegram, YouTube, TikTok und Instagram) immer wieder auf die gleichen Akteur*innen, die russische Staatsnarrative verbreiten. Hinter den Kanälen stehen unter anderem Personen mit einem familiären Bezug zu Russland, einer Migrationsgeschichte aus oder nach Russland und Pro-Kreml-Aktivist*innen. Auf ihren Kanälen teilen sie oft Inhalte aus rechtsradikalen oder verschwörungstheoretischen Alternativmedien, die teilweise aus Kreml-nahen Quellen finanziert werden.

Ein gemeinsamer Aufhänger sind die in Deutschland gefühlten „russophoben“ Aktivitäten und Stimmungen. Die Pro-Kreml-Akteur*innen wirken diesen mit der angeblichen historischen Stellung Russlands in der Welt entgegen. Dabei beziehen sie sich mit Spott und Hohn auf die deutsche Regierung, ihre innenpolitischen Maßnahmen oder auf ihre Position zu Russlands Krieg gegen die Ukraine. Das Clown-Emoji ist ein häufig eingesetztes Stilmittel, mit dem sie Beiträge etablierter Massenmedien oder Ansprachen von Politiker*innen aus Deutschland verhöhnen. Dabei verbreiten sie oft gegensätzliche Standpunkte, welche die „Mainstreammedien“ verschweigen würden. Neben der alternativen Nachrichtenszene gibt es insbesondere auf TikTok eine Gruppe deutscher Regierungsgegner*innen mit und ohne russische Wurzeln, die aus Zorn und Unverständnis gegenüber der deutschen Politik und gesellschaftlichen Werte nach Russland emigriert sind, angeblich um dort „frei zu leben“. Auch sie betrachten die deutsche Demokratie mit Hohn und Russlands Regime als missverstanden oder unfair dargestellt.

Von kultureller Identität zu politischem Aktivismus

Nicht alle Pro-Kreml-Stimmen konzentrieren sich jedoch bloß auf Politik. Auf TikTok und Instagram in Deutschland ist zum Beispiel auch eine junge Sängerin mit Russlandhintergrund mit einer beachtlichen Anzahl an Follower*innen aktiv, deren Hauptthemen Musik und Reisen sind. In ihren zweisprachigen Liedern und Beiträgen kommt sie immer wieder auf ihre slawischen Wurzeln zu sprechen. Sie kombiniert russischen Folk mit deutschem Rap, schreibt Lieder über die Freundschaft der beiden Länder und feiert ihren kulturellen Hintergrund in Form von russischen Traditionen, Kleidung und Gerichten. Dabei reproduziert sie russische traditionelle Werte auf eine subtile und nuancierte Weise. In wenigen Beiträgen kontert sie kritische Kommentare mit deutlicheren Pro-Kreml-Ideologien. Sie erkennt in ihren Inhalten die Sichtweise auf Geschichte, Politik und Gesellschaft, mit der sie in deutschen Schulen aufgewachsen ist, zwar an, lehnt sie dann aber für sich selbst klar ab.

Ihr gegenüber steht eine russlanddeutsche Sängerin, die sich klar gegen den Krieg positioniert und in ihren Liedtexten und Beiträgen Themen wie psychische Gesundheit und Depression aufgreift, um der Tabuisierung dieser Themen insbesondere in slawischen Familien entgegenzuwirken. Eine weitere TikTokerin spricht offen über ihre Verarbeitung des familiären Traumas, das ihre Eltern während der Repressionen in der Sowjetunion erlebten. Auch stereotypische Geschlechterrollen in ihrer Familie sind Thema ihrer Videos. Zu Russlanddeutschen und Spätaussiedler*innen gibt es einige weitere Kanäle, bei denen Kultur, Geschichte und Gemeinschaft im Vordergrund stehen. Sie positionieren sich auch klar gegen den russischen Krieg gegen die Ukraine und reflektieren ihre eigene Rolle im Kontext der russischen Politik.

Politisch-aktivistische oppositionelle Social-Media-Akteur*innen aus Russland bevorzugen die Plattformen Instagram und Telegram. Sie stehen dem verstorbenen russischen Oppositionellen Alexej Nawalny nahe, rufen zu Kundgebungen auf und teilen grausame Bilder von russischen Angriffen in der Ukraine. Sie bleiben aber in ihrer Reichweite weit hinter den Pro-Kreml-Akteur*innen und Propagandist*innen zurück. Dies mag eine Folge von ungleich verteilten Ressourcen oder fehlender gemeinsamer Organisation sein. Es kann aber ebenso vom Kampf mit der eigenen Identität zeugen, vom Suchen nach einem Platz in den Gegensätzen und der Schwierigkeit, sich aktiv gegen ihr eigenes Land zu stellen.

Komplexe Identitätsangebote für die deutsch-russische Jugend

Soziale Medien haben eine erhebliche Reichweite unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen und beeinflussen stark deren Selbstverständnis und Werte. Besonders bei binationaler Zugehörigkeit zwischen Deutschland und Russland kann es herausfordernd sein, sich zu positionieren, da der Bezug zur Herkunft oder Heimat oft nur online stattfindet. Deutsch-russische Nutzer*innen stoßen auf komplexe Identitätsangebote, die oft nicht in eine Schublade passen und dazu führen können, dass sie sich in Deutschland ausgegrenzt fühlen. Um zu verhindern, dass sich junge Menschen mit Russlandhintergrund in Deutschland von der Gesellschaft entfremden und anfällig für Pro-Kreml-Desinformation und Fake News werden, ist es wichtig, die Herausforderungen ihres Lebens zwischen zwei oftmals gegensätzlichen Weltbildern zu adressieren. Zentrale politische Instrumente sollten sein, Kriegspropaganda konsequent zu verfolgen und zu sanktionieren und Geldflüsse aus kremlnahen Quellen zu unterbinden. Auch durch Prebunking und Aufklärung, die vor Desinformation schützen sollen, können Pro-Kreml-Diskurse entkräftet werden. Wichtig ist außerdem, dass sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft für die Inklusion und das Zugehörigkeitsgefühl junger Deutsch-Russ*innen einsetzt.


Sophia Winkler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und promoviert zu sozialen Medien und der Identität junger Russ*innen im Ausland. Ihr Projekt ist Teil des ERC-finanzierten Projekts Moving Russia(ns): Weitergabe von Erinnerungen zwischen den Generationen im Ausland und in der Heimat (MoveMeRU)

Externe Partner: Prof. Dr. Florian Töpfl, Lehrstuhl für Politische Kommunikation mit Schwerpunkt auf Osteuropa und die postsowjetische Region, Universität Passau