Alter Autokrat, neue Gesellschaft: Was von der Präsidentschaftswahl in Belarus zu erwarten ist
Die Präsidentschaftswahl 2025 in Belarus findet inmitten politischer Repressionen, gesellschaftlicher Polarisierung, russischer Dominanz und westlicher Sanktionen statt. Lukaschenka hofft darauf, seine Legitimität wiederherzustellen. Die Beziehungen zur EU werden jedoch kaum zum Status quo vor 2020 zurückkehren.
Die Präsidentschaftswahl in Belarus am 26. Januar findet in einem komplexen geopolitischen Kontext statt. Seit der Niederschlagung der Proteste nach der letzten Wahl im Jahr 2020 hat die Abhängigkeit des belarusischen Regimes von Russland zu einem kritischen Maß an politischem, wirtschaftlichem, militärischem und kulturellem Einfluss geführt, der die Souveränität von Belarus untergräbt. Als Folge dieser Abhängigkeit hat Belarus sein Territorium sowie seine militärische und zivile Infrastruktur für russische Angriffe gegen die Ukraine zur Verfügung gestellt.
Gleichzeitig war das Land Ziel der härtesten westlichen Sanktionen in seiner Geschichte. Diese wurden in mehreren Wellen eingeführt, nachdem die Proteste im Jahr 2020 brutal niedergeschlagen wurden, ein Ryanair-Flug in Minsk zur Verhaftung eines Oppositionsaktivisten zwangsgelandet wurde, die Migrationskrise an der EU-Grenze herbeigeführt und Russland im Krieg gegen die Ukraine unterstützt wurde.
Trotz beispielloser und anhaltender Proteste gelang es Machthaber Aljaksandr Lukaschenka 2020, seine Position zu erhalten. Dies ist vor allem auf die Konsolidierung des Sicherheitsapparats und der Verwaltungselite sowie auf die Unterstützung Russlands zurückzuführen. Er verlor jedoch weitgehend seine innen- und außenpolitische Legitimität. Für den Autokraten ist die bevorstehende Wahl eine Gelegenheit, diese wiederherzustellen.
Veraltete Ideen und endlose Unterdrückung
Der aktuelle Präsidentschaftswahlkampf unterscheidet sich stark vom letzten: Es gibt keine unabhängigen Kandidat*innen, keine lebhaften öffentlichen Debatten, keine großen Versprechungen des Amtsinhabers und keine sichtbaren Unruhen in der Bevölkerung. Abgesehen von Lukaschenka selbst gibt es vier registrierte Kandidat*innen. Drei davon vertreten regierungsnahe Parteien und sind lediglich Alibi-Kandidaten. Selbst die formal unabhängige Hanna Kanapackaya, die „ernannt wurde“, um von 2016 bis 2019 als Oppositionsabgeordnete zu fungieren, ändert nichts am Gesamtbild.
Die Pro-Regierungs-Narrative, die im Vorfeld der Wahl kursieren, greifen altbekannte Thesen auf: „Der Westen bedroht Belarus“, „Die Opposition hat sich an den Westen verkauft“ oder „Lukaschenka ist der Garant für Stabilität“. Der „friedliche Himmel“ ist zu einem Schlüsselbegriff in der zunehmend militarisierten politischen Rhetorik vor den Wahlen geworden und soll die Belarus*innen daran erinnern, dass sie das Glück haben, nicht direkt in den Krieg gegen die Ukraine verwickelt zu sein.
Angesichts von über 1.200 politischen Gefangenen, einer ins Exil gezwungenen Opposition und der Schließung unabhängiger Medien und über 1.800 NGOs und politischer Parteien in den letzten Jahren hätte man im Vorfeld der Wahl weniger staatliche Repressionen erwarten können. Stattdessen beobachten Menschenrechtsorganisationen seit Beginn des Wahlkampfs vermehrte Aktivitäten der Sicherheitskräfte, darunter Einschüchterung und Erpressung potenzieller Aktivist*innen bei der Arbeit oder Entlassungen aufgrund mutmaßlicher regimefeindlicher Aktivitäten im Jahr 2020. Auch der Einsatz des Militärs zum Schutz von Wahllokalen wurde diskutiert. All dies deutet darauf hin, dass das Regime, selbst durch die Ereignisse des Jahres 2020 traumatisiert, die Bedrohung durch die Gesellschaft als übertrieben hoch einschätzt.
Unter Führung der belarusischen Oppositionsaktivistin und Präsidentschaftskandidatin 2020, Swjatlana Zichanouskaja, rufen die demokratischen Kräfte im Exil die Belarus*innen dazu auf, gegen alle Kandidat*innen zu stimmen. Da es jedoch keinen fairen Wahlprozess gibt, wird es schwierig sein zu überprüfen, wie viele Wahlberechtigte dieser Strategie folgen.
Totalitäre Tendenzen und kein neuer Gesellschaftsvertrag
Im Zeitraum von 2015 bis 2020 kam es zu einer gewissen Liberalisierung des politischen Regimes und zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Belarus und der EU. 2014 nahm Belarus eine neutrale Position gegenüber der Ukraine ein und hielt 2015 und 2016 relativ reibungslose, wenn auch nicht freie Wahlen ab. Anfang 2016 hob die EU die meisten ihrer Sanktionen gegen Belarus auf, nachdem die Regierung politische Gefangene freigelassen hatte. Daraufhin wurden die Koordinierungsgruppe EU-Belarus und der Menschenrechtsdialog EU-Belarus ins Leben gerufen, und Lukaschenka wurde sogar zum Gipfel der Östlichen Partnerschaft eingeladen. Während die belarusischen Behörden stillschweigend eine belarusische nationale Identität förderten, entstand in Belarus eine neue Zivilgesellschaft. Konservative und paternalistische Werte gingen stark zurück.
Diese gesellschaftlichen Veränderungen trugen zu einer breiten Anti-Lukaschenka-Mobilisierung bei, die die belarusischen Behörden unvorbereitet traf. Die Krise nach den Wahlen im Jahr 2020 führte jedoch zu einer Verschiebung des soziopolitischen Modells von Belarus. Es besteht kaum eine Chance, dass das Land nach den Wahlen im Jahr 2025 zum Status quo vor 2020 zurückkehren wird.
Es gibt Anzeichen dafür, dass der Staat sich von einer Autokratie zu einem totalitaristischen System entwickelt, das danach strebt, die gesamte Gesellschaft, einschließlich ihrer Privatsphäre, zu kontrollieren. Nichtstaatliche politische Beteiligung wird verfolgt, die politische Rolle der Silowiki nimmt zu und der Verwaltungsapparat wird Lukaschenka gegenüber immer loyaler. Der Zweck von Wahlen besteht nicht mehr darin, eine Fassade der Demokratie zu schaffen, sondern die Kontrolle über die politische Situation zu demonstrieren. Wissenschaftler*innen stellen nach 2020 eine fundamentale gesellschaftliche Spaltung fest, die tiefer geht als die Kluft zwischen Anhänger*innen und Gegner*innen von Lukaschenka und die gegnerische Gruppen immer antagonistischer werden lässt.
Vor diesem Hintergrund wird es für den derzeitigen Machthaber schwierig sein, seine Legitimität wiederherzustellen. Diese basierte lange Zeit auf einem ungeschriebenen „sozialen Vertrag“ zwischen Staat und Gesellschaft: Der Staat sorgt für politische Stabilität, Sicherheit und relativen Wohlstand, und im Gegenzug verzichten die meisten Belarus*innen auf ihre bürgerlichen Freiheiten und unterstützen den Status quo. Die Proteste von 2020 und die darauffolgenden Repressionen trugen zur Beendigung dieses Vertrags bei. Eine Umfrage aus dem Jahr 2024 zeigt, dass fast die Hälfte der urbanen belarusischen Bevölkerung nicht der Meinung ist, dass die Bürger*innen vor der Willkür der Behörden geschützt sind.
Voraussetzungen für einen neuen Dialog mit dem Westen
Die Entlassung von mehr als 220 politischen Gefangenen seit Juli 2024 kann als ein Versuch Lukaschenkas angesehen werden, seine innen- und außenpolitische Legitimität wiederherzustellen. Es ist wahrscheinlich, dass nach der anstehenden Präsidentschaftswahl weitere politische Gefangene freigelassen werden. Angesichts der neuen geopolitischen Realitäten wird das Regime jedoch deutlich mehr tun müssen, um die diplomatische Isolation des Landes zu beenden und eine teilweise Aufhebung der Sanktionen zu erreichen. Zumindest wird erwartet, dass es von weiteren Repressionen absieht und die Unterstützung der russischen Aggression gegen die Ukraine einstellt.
Die demokratischen Kräfte des Landes sind sich uneins, was Zugeständnisse von Lukaschenka angeht. Während die von Zichanouskaja angeführte Mainstream-Opposition weniger bereit ist, Kompromisse einzugehen, sind für eine Gruppe um Walery Kawaleuski (ein ehemaliges Mitglied des United Transitional Cabinet of Belarus) und Familienangehörige der politischen Gefangenen alle Optionen denkbar, auch Verhandlungen mit dem Autokraten. Welchen Ansatz der Westen favorisieren wird, hängt stark vom Verlauf des Krieges gegen die Ukraine und den politischen Entwicklungen in westlichen Ländern ab.
Olga Dryndova ist Politikwissenschaftlerin und Chefredakteurin der Belarus-Analysen an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen.