Präsidentschaftswahlen in Belarus: Wunsch nach Veränderung
Am 14. Juli verweigerte die belarussische Wahlkommission zwei beliebten Herausforderern des belarussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka die Zulassung zu den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Nach der Entscheidung bildeten sich in Minsk kilometerlange Schlangen von wartenden Menschen, die bei der Kommission eine Beschwerde dagegen einreichen wollten. Auch in anderen Städten kamen Menschen zu Protesten zusammen. Währenddessen gewinnt eine Einheitskampagne der Opposition zur Unterstützung der Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja im ganzen Land an Rückhalt.
Neue Umfragedaten, die vom ZOiS im Vorfeld der Wahlen erhoben wurden, zeigen, wie beliebt die Herausforder*innen des Präsidenten unter jungen Menschen in Belarus sind. Vor allem drei Wahlkampagnen haben zu einem hohen politischen Interesse der Öffentlichkeit beigetragen. Alle drei alternativen Kandidaten wurden durch ein beeindruckendes Maß an öffentlicher Mobilisierung, eine hohe Anzahl an Unterschriften für ihre Kandidaturen und Solidaritätsveranstaltungen im ganzen Land unterstützt.
Zuerst trat Wiktar Babaryka, früherer Vorsitzender der Belgasprombank, als wichtigster Herausforderer des Amtsinhabers hervor. Nachdem er am 18. Juni verhaftet wurde, setzte er seine Kampagne aus dem Gefängnis heraus fort, wurde jedoch am 14. Juli nicht zur Wahl zugelassen. Ein weiterer Herausforderer ist Walerij Zapkala, der seine diplomatische Karriere als Botschafter in den USA begann, und 2005 den „Belarus Hi-Tech Park” aufbaute. Er versprach eine unternehmerisch orientierte Zukunft für ganz Belarus, aber zu viele der Unterschriften für seine Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur wurden für ungültig erklärt.
Drittens wurde der prominente Vlogger Sjargei Zichanouski frühzeitig von der Wahl ausgeschlossen. Später wurde er verhaftet und sitzt noch immer im Gefängnis. Seine Ehefrau Swjatlana Zichanouskaja nahm seinen Platz ein und wurde als Kandidatin zugelassen. Nach der Entscheidung vom 14. Juli stellten sich Maria Kalesnikawa und Weranika Zapkala als Vertreterinnen der anderen beiden, ausgeschlossenen Kandidaten an ihre Seite. Dieses weibliche Trio ist zur größten Herausforderung für den belarussischen Präsidenten in den letzten zwanzig Jahren geworden.
Die Popularität des Präsidenten: eine sensible Angelegenheit
Die Präsidentschaftswahlen in Belarus sind in der Regel nicht mehr als Legitimationsrituale für die autokratische Führung des Landes. Seit 1994 hat Lukaschenka jede Wahl mit mehr als 70 Prozent der Stimmen gewonnen. Im diesjährigen Wahlkampf behaupteten die staatlichen Medien immer wieder, dass die Zustimmungswerte des Präsidenten bei über 60 Prozent lägen. Daten aus öffentlichen Meinungsumfragen, die von der Nationalen Akademie der Wissenschaften von Belarus durchgeführt wurden, zeigen jedoch, dass nur 25 Prozent der Bürger*innen dem Präsidenten vertrauen.
Im Zuge von Onlineumfragen, die nach der Unterstützung für verschiedene Präsidentschaftskandidat*innen fragten, entstand das Meme „Sascha 3%“, das sich über Lukaschenkas schwindenden Rückhalt lustig macht. Die Regierung reagierte auf die Umfragen mit einer unverhohlenen Drohung, gegen unabhängige Medien vorzugehen, die Onlineumfragen zu den Wahlen durchführen.
Es ist nach wie vor schwierig, mehr über die politische Stimmung im Land zu erfahren. Nichtsdestotrotz führte das ZOiS eine Onlineumfrage unter jungen, urbanen Menschen durch, um ihre politischen Ansichten zu untersuchen. Vom 22. Juni bis zum 4. Juli 2020 befragten wir 2.000 Belaruss*innen zwischen 18 und 34 Jahren, die in den sechs größten Städten des Landes leben. Die Daten zeigen, dass das Interesse junger Menschen an Politik über die letzten Monate hinweg gestiegen ist, dass sie aktiv an Protesten teilnehmen und dass sie sich ein Ende der Präsidentschaft Lukaschenkas wünschen.
Junge Wähler*innen auf der Straße
Unter den Befragten gaben 80 Prozent an, dass sie an der Präsidentschaftswahl teilnehmen möchten (Grafik 1). Auch das allgemeine politische Interesse war groß. 60 Prozent gaben an, dass sie sich für Politik interessieren würden. Der politische Enthusiasmus der jungen Leute traf jedoch noch vor dem offiziellen Beginn des Wahlkampfs auf scharfe Gegenreaktionen der Regierung. Festnahmen von politischen Aktivist*innen, Journalist*innen, politischen Blogger*innen und Demonstrant*innen signalisierten der Bevölkerung, dass Repression für die herrschende Elite das Mittel der Wahl ist, um mit Opposition umzugehen.
Danach gefragt, für welche*n Kandidat*in sie stimmen würden, antworteten fast 10 Prozent der jungen Belaruss*innen, dass sie den Amtsinhaber wählen würden (Grafik 2). Babaryka war mit 45 Prozent Zustimmung unter den Befragten der beliebteste Kandidat. Danach kam Zapkala mit annähernd 13 Prozent. Es ist jedoch denkbar, dass Unterstützer*innen dieser beiden Kandidaten – sowie möglicherweise einige derer, die nach eigener Angabe noch nicht wussten, für wen sie stimmen wollen – sich seit dem Zeitpunkt der Umfrage dazu entschieden haben, Zichanouskaja zu unterstützen.
Mehr als 60 Prozent derjenigen, die eine*n Oppositionskandidat*in bevorzugten, gaben an, dass die Positionen der von ihnen präferierten Kandidat*innen ihren eigenen politischen Ansichten entsprächen. Nur etwa 10 Prozent von Zapkalas und 15 Prozent von Babarykas Unterstützer*innen gaben als Grund für ihre Wahlabsicht die Ablehnung des Amtsinhabers an. Weniger als 10 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass es keine attraktive Alternative zu Lukaschenka gebe.
Unter jüngeren Befragten, denjenigen mit einem höheren Interesse an Politik und den Einwohner*innen der Hauptstadt fand die Opposition am meisten Unterstützung. Es bestand jedoch kein Zusammenhang zwischen der Unterstützung eines*r Oppositionskandidat*in und dem Beruf, dem Einkommen, dem Bildungsgrad oder dem Grad der Religiosität, den die Befragten sich selbst zuschrieben. Mit anderen Worten schafft die Opposition es, einen in sozialer Hinsicht vielfältigen Kreis an Unterstützer*innen anzusprechen.
Der Amtsinhaber hatte einen stärkeren Rückhalt unter älteren Befragten, denjenigen mit geringerem politischem Interesse und denjenigen, die sich eher als religiös einordneten. Das verfügbare Einkommen korrelierte ebenfalls positiv mit der Unterstützung Lukaschenkas.
Da die zwei beliebtesten Kandidaten vom Wettbewerb um die Präsidentschaft ausgeschlossen wurden, sahen sich viele junge Menschen gezwungen, sich jenseits der Wahlkampfarena politisch zu engagieren. In den letzten Wochen war eine der bemerkenswertesten politischen Mobilisierungen in der Geschichte des Landes zu beobachten. In unserer Umfrage gaben fast 20 Prozent der Befragten an, dass sie Menschen kennen würden, die im vergangenen Jahr an Protesten teilgenommen hätten (Grafik 3). Jüngere Befragten gaben mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an, Demonstrant*innen zu kennen. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der höheren Bereitschaft unter Jugendlichen, persönliche Risiken einzugehen. Junge Menschen, die in Minsk leben, kannten eher Demonstrant*innen, politischer Aktivismus war aber eindeutig nicht auf die Hauptstadt begrenzt.
Nicht bloß ein Übergangsritus
Auch wenn das Ergebnis bereits im Vorhinein klar erscheint, können Wahlen in stabilen Autokratien bisweilen zum Auslöser bemerkenswerter politischer Mobilisierungen werden. Ob der aktuelle Grad an Mobilisierung in Belarus über die gegenwärtige Situation hinaus aufrechterhalten werden kann, bleibt abzuwarten. Möglicherweise werden Lukaschenkas Wiederwahl und damit einhergehende Repressionen das bisher stabile, autokratische System in Belarus vor neue Herausforderungen stellen. Der Gesellschaftsvertrag scheint zerbrochen. Ob und wann dieser Bruch jedoch gesellschaftlichen Wandel hervorbringen wird, ist ungewiss. Wie auch immer das Ergebnis der diesjährigen Präsidentschaftswahl ausfallen mag, es scheint klar, dass Belarus in unbekannte Gewässer vorgestoßen ist.
Félix Krawatzek ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS, wo er an Projekten zu historischer Erinnerung, Erinnerungsgesetzen und Jugend arbeitet. Er koordiniert außerdem das Forschungscluster „Jugend in Osteuropa“ des ZOiS.
Maryia Rohava forscht an der Universität Oslo mit einem Fokus auf belarussischer und russischer Politik.