ZOiS Spotlight 6/2025

Ukraine: Selenskyjs Legitimität unbestritten

Von Olga Onuch Gwendolyn Sasse 26.03.2025

Es gibt Stimmen, die anzweifeln, ob Wolodymyr Selenskyj noch legitimer Präsident der Ukraine ist – zuletzt medienwirksam die US-Administration. Dabei ist das Aussetzen von Wahlen unter Kriegsrecht nicht nur gängige Praxis, sondern dient auch dem Schutz von demokratischen Standards.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einer Rede in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament. IMAGO / Bestimage

Die Provokation und Demütigung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj durch Donald Trump und JD Vance im Weißen Haus haben Schockwellen durch Europa gesandt und den Versuch beschleunigt, in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik geeinter und stärker aufzutreten. Im Vergleich zu dem ungewöhnlichen Schlagaustausch vor laufenden Kameras mögen andere, eher beiläufig geäußerte Falschaussagen Trumps und seiner Administration verblassen. Genau hier liegt jedoch eine weitere gefährliche Waffe im Kampf um die Deutungshoheit über die Entwicklungen in Russlands Krieg gegen die Ukraine, die den Rahmen von Verhandlungen definiert und die Position der Ukraine weiter schwächt. Zu diesem Repertoire gehören Trumps Versuche, Selenskyj als Präsidenten und Verhandlungspartner zu delegitimieren. Trump macht sich hiermit Putins Position zu eigen, zu dessen Kriegsmotivation ein Sturz der ukrainischen Regierung und ihren Ersatz durch ein Marionettenregime zählt. Die von der US-Administration amplifizierte These vom illegitimen ukrainischen Präsidenten setzt auch in Teilen der europäischen Öffentlichkeiten zumindest Fragezeichen hinter Selenskyjs Präsidentschaft und das demokratische Selbstverständnis der Ukraine.

Trump muss sich sicher gewesen sein, dass seine aus der Luft gegriffene Behauptung, Selenskyjs Zustimmungswerte in der Ukraine lägen bei nur 4 Prozent nur begrenzt Gegenwind erfahren würde und dass er einen Faktencheck leicht abtun könnte. Diese Art der Falschaussagen sind im öffentlichen Diskurs nur dort wirkmächtig, wo konkretes Wissen über die ukrainische Politik und Gesellschaft weiterhin begrenzt ist. Hier kann und muss Wissenschaft ansetzen, um der Desinformation Forschungsergebnisse entgegenzusetzen.

Umfragewerte weiterhin stabil

Ein Blick auf diverse Meinungsumfragen in der Ukraine, die im Krieg zwar auf erhöhte methodologische Herausforderungen treffen, sich aber in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten sehr wohl durchführen lassen, widerlegt die von Trump behaupteten Zahlen eindeutig. Die Forschungsprojekte MOBILISE und IBIF, an denen das ZOiS beteiligt ist, beobachten seit Jahren in Kooperation mit dem Kyiv International Institute of Sociology die gesellschaftliche Stimmung in der Ukraine. Durch Vergleichswerte vor und seit 2022 können wir die Akzeptanz von bzw. das Vertrauen in Selenskyj systematisch nachvollziehen. Während der anfängliche „Rally-'round-the-Flag“-Effekt nach 2022, der Selenskyjs Zustimmung bis Juli 2023 auf etwa 85 Prozent ansteigen ließ, über die Jahre wieder etwas abklang, sind die Umfragewerte nach wie vor sehr hoch. Unsere letzte Umfrage im Januar 2025 zeigte sogar einen erneuten leichten Anstieg der Akzeptanz Selenskyjs auf 63 Prozent („volle/eher Zustimmung“). Andere Umfragen haben mit leicht variierenden Fragestellungen Unterstützung von 55-65 Prozent dokumentiert, die keine großen regionalen Unterschiede aufweist. Neue Daten aus einer Umfrage des Economist, bei deren Ausarbeitung Wissenschaftler*innen von MOBILISE und IBIF beraten haben, zeigen nach dem Eklat im Weißen Haus einen weiteren Anstieg der Zustimmung für Zelenskyy auf 72 Prozent.

Zustimmungswerte von Präsident Selenskyj in der ukrainischen Bevölkerung

Die weiterhin deutliche mehrheitliche und wieder zunehmende Unterstützung Selenskyjs herunterzuspielen, knüpft nahtlos an die deplatzierte Forderung nach raschen Neuwahlen in der Ukraine an. Seit das Kriegsrecht Selenskyjs Amtszeit über Mai 2024 hinaus verlängerte, wurden nicht nur in Russland, sondern auch in den USA und Europa Diskussionen über die vermeintliche fehlende Legitimation des Präsidenten lauter. Die Idee gibt vor, pro-demokratisch zu sein, und verschafft sich so vor allem über populistische Rechts- und Linksparteien Raum im öffentlichen Diskurs. Das Kriegsrecht, das das ukrainische Parlament alle drei Monate verlängern muss und das somit kein Automatismus ist, verbietet es, momentan Wahlen in der Ukraine durchzuführen. Derartige Beschränkungen sind typisch für das Prinzip Kriegsrecht. Ein prominentes Beispiel ist die Aussetzung der Wahlen in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs. Auch in Deutschland, so regelt es das Grundgesetz, würden Wahlen im Kriegsfall bis zu sechs Monaten nach Ende der Kampfhandlungen ausgesetzt.

Neuwahlen wären undemokratisch

Wahlen sind per se keine Garantie für Demokratie. Autoritäre Staaten, darunter auch Russland, halten regelmäßig Scheinwahlen ab und inszenieren damit ihre vermeintliche Legitimität. Demokratische Wahlen müssen die freie und faire Beteiligung aller Wahlberechtigten gewährleisten. Dies ist in der Ukraine derzeit nicht möglich. Etwa fünf Millionen ukrainische Staatsbürger*innen in den von Russland besetzten Gebieten sowie militärisches Personal und Menschen in der Nähe der Frontlinie könnten größtenteils nicht teilnehmen. Darüber hinaus wäre die Beteiligung für die Mehrheit der etwa vier Millionen innerhalb der Ukraine Geflüchteten und der etwa 6,5 Millionen ins Ausland geflüchteten Ukrainer*innen nicht gesichert. Darüber hinaus wären Wahlstationen einem erhöhten Sicherheitsrisiko durch mögliche Angriffe ausgesetzt. Die Einführung eines e-Voting-Systems ist bisher weder praktikabel noch gesetzlich abgesichert.

Rasche Neuwahlen in der Ukraine würden zudem eine Polarisierung in der Politik des Landes forcieren. Kandidat*innen müssten schnell an Profil gewinnen und die Trennlinien würden sich auch an der Zustimmung für oder Ablehnung von bestimmten Kriegsentscheidungen festmachen und so die soziale Kohäsion in der Ukraine unterminieren, ohne zum jetzigen Zeitpunkt realistische alternative Perspektiven aufzeigen zu können. Für ein Land im Krieg ist aber auch der finanzielle Aufwand einer Wahl nicht trivial: Die Kosten einer Präsidentschaftswahl werden auf 200 Millionen US-Dollar geschätzt, hinzu kommen die Ressourcen Zeit und Priorisierung inmitten des Kriegsgeschehens.

Auch Selenskyjs Opposition positioniert sich gegen Wahlen

Verschiedene Meinungsumfragen zeigen deutlich, dass anders als für Putin und Trump die Wahlthematik für die Ukrainer*innen überhaupt keine Priorität hat: 70-80 Prozent zeigen sich überzeugt, dass Selenskyj bis zum Ende des Krieges im Amt bleiben soll. Diese gesellschaftliche Grundstimmung wurde nach dem Eklat im Weißen Haus sogar von Selenskyjs politischen Gegnern, wie seinem Vorgänger Petro Poroschenko oder dem Kyjiwer Bürgermeister Vitali Klitschko öffentlich gespiegelt. 400 NGOs haben gemeinsam ein Statement über die Unmöglichkeit von demokratischen Wahlen vor einem dauerhaften Frieden verfasst. Die Umfragen zeigen auch, dass eine Mehrheit der ukrainischen Bürger*innen zum jetzigen Zeitpunkt keine Alternative zu Selenskyj sehen. Die Zahlen derer, die angeben, für ihn stimmen zu wollen, sind zwar deutlich geringer als seine derzeitigen Zustimmungswerte, aber sein Abstand zu anderen Politiker*innen ist groß.

Wahlumfragen unter der ukrainischen Bevölkerung

Über 30 Prozent der Befragten gaben in der IBIF-Umfrage von November 2024 bis Januar 2025 an, im Falle von Wahlen für Selenskyj stimmen zu wollen. Ähnlich populär ist nur der ehemalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte und derzeitige Botschafter in Großbritannien, General Walerij Saluschnyj, der allerdings bisher keine Wahlambitionen geäußert hat. Tatsächlich machte auch er deutlich, dass Krieg keine Zeit sei, um über Wahlen zu sprechen. Alle weiteren derzeit sichtbaren Politiker*innen, insbesondere Petro Poroschenko und die ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko, liegen mit 4-6 Prozent weit hinter Selenskyj. Umso verfehlter sind die Versuche der US-Administration, mit Blick auf einen Führungswechsel mit Poroschenko und Tymoschenko Kontakt aufzunehmen. Diese Strategie verwirrt angesichts der eindeutigen Zahlen, fügt sich aber ins Bild der Kreml-Forderungen nach einem neuen „Regime“ in Kyjiw als Bedingung für Friedensverhandlungen. Russland wird ebenfalls aktiv versuchen, Kandidat*innen heranzuziehen, die für Kooperationen mit Russland aufgeschlossen sind. Diese in einer Wahl vor dem Hintergrund des Krieges in eine Führungsposition zu bringen, ist so gut wie ausgeschlossen.

Die Ukraine wird demokratischen Herausforderungen in der Zeit nach dem Krieg nicht entgehen, aber diese machen sich vor allem daran fest, ob ein zukünftiger Waffenstillstand oder „Frieden“ in der Ukraine als gerecht angesehen wird.


Gwendolyn Sasse ist Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien und Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Olga Onuch ist Professorin für Vergleichende und Ukrainische Politik an der Universität Manchester.


„Identity and Borders in Flux: The Case of Ukraine“ (IBiF) ist ein Umfrageprojekt, das von der British Academy im Rahmen des Förderprogramms „Tackling the UK's International Challenges“ finanziert wird und sich mit Identität, öffentlicher Meinung und politischem Verhalten in der Ukraine in Kriegszeiten befasst. IBIF, das an der Universität Manchester angesiedelt ist und von Prof. Dr. Olga Onuch geleitet wird, bringt Wissenschaftler*innen aus dem Großbritannien, Deutschland, der Ukraine und den Vereinigten Staaten zusammen.

Onuch O., Kulyk V., Hale H., Sasse G. (2024). BIF Project: Wave Two National Representative Panel Survey of the Ukrainian Population (November 2024-January 2025). Identity and Borders in Flux (IBIF): The Case of Ukraine.