Wärme, Lachen und der Geruch von Brötchen: was für unfreiwillige Migrant*innen aus der Ukraine „Zuhause“ bedeutet
Tausende junge Ukrainer*innen haben in Folge des Krieges gegen ihr Land ihr Zuhause verloren. In Interviews erzählen einige von ihnen, wie diese unfreiwillige Migration ihre Wahrnehmung von einem Zuhause und ihre Einstellung zur Ukraine verändert hat. Und ob es möglich ist, ein Zuhause fern der Heimat zu finden.
Aus dem Englischen übersetzt von Michael G. Esch.
Aus Sicht der Migrationsforschung ermöglicht es das Konzept des Zuhauses, die Welten von Migrant*innen besser zu verstehen. „Zuhause“ bezieht sich dabei sowohl auf die Herkunftsregion als auch die Aufenthaltsländer und umfasst materielle und soziale Dimensionen. Sich wieder ein Zuhause einzurichten, ist für alle Migrierten wichtig. Je nach Alter haben sie dabei jedoch verschiedene Bedürfnisse und Prioritäten. So gilt die Jugend als ein Lebensabschnitt, in dem die Menschen besonders mobil sind, was gemeinhin als Vorteil angesehen wird. Gleichzeitig ist die Jugend aber die Lebensphase, in der die Suche nach der eigenen Identität und einer persönlichen und beruflichen Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Diese fließende Situation eröffnet einerseits Möglichkeiten, macht andererseits aber auch verwundbar, da die meisten nicht über die Mittel verfügen, sich eine stabile Lebenssituation zu schaffen.
Im Rahmen des Ukraine Research Network@ZOiS wurden 45 Interviews mit jungen Ukrainer*innen durchgeführt, die sich gezwungen sahen, die Ukraine nach dem vollumfänglichen russischen Angriff im Jahre 2022 zu verlassen und nun in Deutschland und der Tschechischen Republik leben. Sie sprechen darüber, was Zuhause für sie bedeutet, wie wichtig es ist, sich zu Hause zu fühlen, sowie über ihre Haltungen gegenüber der Ukraine und den Aufnahmeländern.
Ein materielles Zuhause ohne das Gefühl, zu Hause zu sein
Die Kombination aus unfreiwilliger Migration, Bildungsmobilität und häufigen Wohnungswechseln hat bei den Befragten ein zunehmend vages Gefühl von Zuhause hervorgerufen. Nach mehr als zwei Jahren unfreiwilligen Aufenthalts im Ausland sind die meisten Studienteilnehmer*innen in einem Übergangszustand. Sie sehen die Ukraine nicht mehr ohne weiteres als ihr Zuhause an, während das Heimischwerden in den Aufenthaltsländern ebenso schwierig ist. Ein Zuhause zu haben wird häufig eher als Zukunftsprojekt verstanden, als ein Ort, an dem das Leben der Menschen angenehmer und über Monate und Jahre stabiler sein wird als unter den gegenwärtigen Bedingungen.
Erfahrungen von Krieg und unfreiwilliger Migration zwingen viele junge Menschen dazu, die Rolle eines Zuhauses, dessen nichtmaterielle Eigenschaften wichtiger sind als seine physische Gestalt, neu zu bestimmen. Viele Befragte empfinden ihre frühere Bindung an das materielle Heim als Belastung, da viele Häuser im Krieg beschädigt oder zerstört wurden. Die immaterielle Komponente des Zuhauses – die Bindung an Familie und Freunde – hat neue Bedeutung erhalten und ist zu dem geworden, was einer Person unabhängig vom physischen Aufenthaltsort erhalten bleibt.
Für junge Ukrainer*innen hat das Wiedererlangen eines Gefühls von Zuhause in den Aufenthaltsländern wenig mit materiellen Objekten zu tun. Viele leben minimalistisch und reduzieren ihre materiellen Besitztümer, weil sie damit rechnen, wieder umzuziehen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern.
Zuhause oder „Nicht-Zuhause“
Das elterliche Heim ist für viele Ukrainer*innen das Idealbild des Zuhauses: An diesem Ort wurden sie geboren und wuchsen sie auf, er repräsentiert Geborgenheit und Stabilität. Zuhause ist für viele Befragte gleichbedeutend mit Wärme, Lachen und vertrauten Gerüche, etwa von frischen Brötchen. In Friedenszeiten wurde der Auszug aus dem elterlichen Heim, beispielsweise der Umzug in eine andere Stadt zu Bildungszwecken, als Übergang empfunden, als Beginn eines unabhängigen Lebens mit all seinen Hoffnungen und Versprechungen. In dem Maße, in dem der Austausch mit den Eltern abnahm, wurden Gefühle von Freiheit und Unabhängigkeit gestärkt. Die unfreiwillige Migration hingegen festigt die Bindung an das elterliche Zuhause, was auch auf ein Bedürfnis hinweist, einen Ort der Sicherheit, Stabilität und Geborgenheit sowie moralische und materielle Unterstützung zu haben.
Bei jungen Menschen in der Ukraine und im Ausland werden Gefühle des Zuhauseseins durch als positiv wahrgenommene soziale Netzwerke geprägt: Familie, enge Freund*innen, Nachbar*innen, aber auch berufliche Bekanntschaften. Ein Bestandteil dieser Netzwerke ist Handlungskompetenz: die Möglichkeit, Ereignisse anzustoßen und aktiv an Unternehmungen teilzunehmen. Ein zentraler Bestandteil des Zuhauses wiederum ist die Möglichkeit, direkt, also ohne die Ablenkung durch elektronische Geräte oder soziale Medien, mit anderen zu kommunizieren.
Dagegen wird das Konzept des „Nicht-Zuhauses“ im Kontext der Migration mit unbehaglichen Orten assoziiert, die gemeinsam mit anderen genutzt, aber nicht kontrolliert werden können: Die Unterbringung in einem Wohnheim, einer Mietwohnung oder als Gast von Einheimischen. Unangenehme Lebensbedingungen und das Fehlen eines Gefühls des Zuhauseseins weichen die Grenze zwischen dem privaten Raum und der Außenwelt auf. Genau deshalb findet das Bild des Zuhauses seinen Ort lediglich in den Zukunftsplänen der Migrant*innen, wohingegen die gegenwärtige Unterkunft als Mittel zum Zweck, dieses Ziel zu erreichen, wahrgenommen wird. Das „Nicht-Zuhause“ ist verbunden mit schwachen Sozialkontakten und weniger sozialen Kompetenzen, die wiederum häufig Identitätskrisen und eine Unfähigkeit, die Reaktionen anderer zu lesen und zu verstehen, nach sich ziehen.
Langfristige Folgen
Ein Zuhause aufzubauen ist ein komplexer Prozess, der in vielen Fällen eher die Folge des Eingewöhnungsprozesses von Migrant*innen in eine neue Lebensweise darstellt als das Ergebnis bewusster Entscheidungen. Wichtig dabei sind Zukunftsperspektiven, klar definierte Perioden der Stabilität sowie die Möglichkeit, wieder mit den Verwandten zusammenzukommen. Die mangelnde Bindung an ein Zuhause, sein schwindender persönlicher Wert und das Gefühl, zwischen mehreren Zuhauses zu leben, intensiviert außerdem Praktiken über Landesgrenzen hinweg und schafft eine Reihe von „Übergangs“-Orten.
Ausgerechnet in einem Lebensabschnitt migrieren zu müssen, in dem junge Menschen aktiv ihre Identitäten suchen, sorgt für zusätzliche Spannungen und bedeutet, dass die Abfolge wichtiger Lebensereignisse durcheinandergerät. So werden etwa Eheschließungen, Geburten und Karrieren verzögert. Diese Effekte mögen wegen der optimistischeren Sicht jüngerer Menschen auf ihre Lage nicht ohne weiteres wahrnehmbar sein, werden sich aber langfristig auswirken.
Oksana Mikheieva ist Professorin für Soziologie an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lviv und Fellow am vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Ukraine Research Network@ZOiS.