Weibliche Führung in Krisenzeiten: Eine Kraft für Resilienz und Wiederaufbau
Während in der Ukraine der Krieg andauert und gleichzeitig der Wiederaufbau im Blick ist, übernehmen Frauen in vielen Bereichen Führungsrollen. Trotz Hindernissen bringen weibliche Führungskräfte Anpassungsfähigkeit, emotionale Intelligenz und einen kooperativen Ansatz ein, der den sozialen Wandel vorantreibt.

Das demografische Profil der Ukraine hat sich in letzter Zeit bemerkenswert verändert. Frauen übernehmen zunehmend Führungspositionen, indem sie Unternehmerinnen oder Entscheidungsträgerinnen werden oder vom mittleren Management in die Geschäftsführung aufsteigen. Dieser Trend ist in erster Linie auf die Feminisierung vieler Branchen zurückzuführen – entweder aufgrund natürlicher Emanzipation oder als Folge des Krieges.
Veränderte Beschäftigungsrollen
Frauen in der Ukraine haben sich in verschiedenen Sektoren zunehmend in Führungspositionen vorgearbeitet. Im Juli 2024 hatten Frauen 85 von 401 Sitzen im ukrainischen Parlament inne, was einem Anteil von 21,2 Prozent entspricht. Dies stellt einen deutlichen Anstieg gegenüber den Vorjahren dar. So waren im Jahr 2014 beispielsweise nur 11,8 Prozent der Parlamentsmitglieder Frauen.
In Kriegszeiten, wenn viele Männer im wehrpflichtigen Alter zum Militär gehen, engagieren sich Frauen verstärkt in der Freiwilligenarbeit, unterstützen die Bemühungen an der Heimatfront und ersetzen Männer in Rollen, die zuvor ausschließlich Männern vorbehalten waren. In der Ukraine wurden durch Änderungen des Arbeitsrechts die Beschränkungen für Frauen aufgehoben, die in der Schwerindustrie arbeiten, sodass sie nun auch unter Tage arbeiten und grundlegende Dienstleistungen sicherstellen können. Über 15 Prozent der (männlichen) Bergleute haben ihren Beruf aufgegeben, um sich der Armee anzuschließen, was den Bedarf an Frauen in diesen wichtigen Positionen verdeutlicht. Das gleiche Bild zeigt sich in der Landwirtschaft und Logistik, wo immer mehr Frauen eine Ausbildung als Traktor- und LKW-Fahrerin absolvieren, um den Arbeitskräftemangel in diesen Sektoren zu beheben, die zuvor von Männern dominiert wurden.
Diese Verschiebung spiegelt einen umfassenderen Wandel der Geschlechterrollen in der Arbeitswelt in der gesamten Ukraine wider. Ukrainische Unternehmen stellen mehr Frauen ein, sodass mehr Frauen die Chance auf eine Führungsposition haben. Gleichzeitig stellen sich entscheidende Fragen: Was wird passieren, wenn die Männer zurückkehren? Und kommen diese Veränderungen den Frauen selbst, den Organisationen, für die sie arbeiten, und der ukrainischen Gesellschaft zugute?
Mit Empathie und Strategie führen
Die Forschung zu weiblicher Führung zielt darauf ab, das Verständnis von Führung grundsätzlich zu vertiefen. Viele Jahre lang dominierten die Stimmen männlicher Führungskräfte die Diskussionen und historischen Aufzeichnungen. Jetzt ist es an der Zeit, die Führungserfahrungen, -strategien und -beiträge von Frauen anzuerkennen und zu analysieren, um eine umfassendere und integrativere Perspektive auf die Führungsdynamik zu bekommen.
Ein neues Forschungsprojekt des ZOiS untersucht, wie weibliche Führungskräfte in NGOs, sozialen Projekten und Freiwilligenorganisationen Krisen bewältigen, Resilienz fördern und den Wiederaufbau von Gemeinschaften gestalten. Interviews mit weiblichen Führungskräften in verschiedenen Sektoren beleuchten Führungsstile, das Gleichgewicht zwischen Kooperation und Wettbewerb und die Soft Skills, die es Frauen ermöglichen, den sozialen Wandel voranzutreiben.
Die Forschung deutet darauf hin, dass weibliche Führungskräfte dazu neigen, einen transformativen Führungsstilanzunehmen. Dieser betont Inklusivität, hohe emotionale Intelligenz, konsensbildende Verhandlungen und ein Bewusstsein für die Rolle von Frauen in Teams und Organisationen. Kooperative Ansätze sind besonders im Krisenmanagement und bei humanitären Einsätzen von Bedeutung, wo sich von Frauen geleitete Initiativen häufig auf Beziehungsstrategien konzentrieren, die Vertrauen und sozialen Zusammenhalt fördern. Dies ist besonders bei der Wiedereingliederung von Veteranen von Bedeutung, bei der auch psychologische Unterstützung eine entscheidende Rolle spielt. Es könnte die Hypothese aufgestellt werden, dass viele Frauen gut gerüstet sind, um bestimmte Managementaufgaben zu bewältigen: Teamführung, Koordination, Multitasking und die Aufrechterhaltung einer positiven Teamatmosphäre.
Die Ergebnisse der Interviews sollen dazu beitragen, diese Hypothese zu bestätigen oder zu widerlegen. Die Arbeitshypothese lautet, dass weibliche Führungskräfte eher zu kooperativem Verhalten neigen und Unterstützungsnetzwerke fördern, die positiv auf die Arbeit wirken sollen. Gleichzeitig bewegen sich weibliche Führungskräfte in komplexen Umgebungen, in denen ein Wettbewerb um Ressourcen, Sichtbarkeit und Nachhaltigkeit herrscht. Ein Gleichgewicht zwischen diesen Dynamiken herzustellen, könnte ein Schlüsselfaktor für die Effektivität von Frauen sein.
Herausforderungen und Chancen
Trotz ihres bedeutenden Beitrags sehen sich weibliche Führungskräfte in Krisensituationen oft mit systemischen Hindernissen konfrontiert. Dazu zählen unter anderem begrenzte finanzielle Mittel, Unterrepräsentation bei der Entscheidungsfindung und gesellschaftliche Erwartungen, die Führung mit Männlichkeit verbinden. Die Führungsrolle von Frauen bringt jedoch auch einzigartige Chancen mit sich. Ihre Fähigkeit, sich schnell anzupassen, starke zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und psychologisch sichere Umgebungen zu schaffen, macht von Frauen geführte Organisationen zu wichtigen Triebkräften für den sozialen Wiederaufbau. Dass weibliche Führung besonders auf psychische Gesundheit, Bildung und nachhaltige Entwicklung achten, trägt zur langfristigen Widerstandsfähigkeit bei, was sowohl dem Einzelnen als auch der Gemeinschaft zugutekommt.
Gleichzeitig beeinträchtigen geschlechtsspezifische Vorurteile weiterhin die wirtschaftliche Teilhabe von Frauen. Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt oft als weniger attraktive Kandidatinnen wahrgenommen. Im Jahr 2023 machten Frauen 72,5 Prozent der Arbeitslosen in der Ukraine aus. Bis 2024 waren nur 48 Prozent der durch den Krieg vertriebenen Frauen erwerbstätig, verglichen mit 71 Prozent der Männer, was auf eine erhebliche geschlechtsspezifische Kluft bei den Arbeitsmarktchancen hinweist. Diese und andere Vorurteile könnten den beruflichen Aufstieg, die finanzielle Unabhängigkeit und eine breitere soziale Eingliederung behindern.
Ausblick
Um die Herausforderungen des Krieges und des zukünftigen Wiederaufbaus nach dem Krieg zu meistern, ist es von entscheidender Bedeutung, die Stärken weiblicher Führungskräfte zu nutzen, um soziale Netzwerke wiederaufzubauen und das Entwicklungspotenzial freizusetzen. Die Anerkennung und Unterstützung dieser Führungskräfte – durch politische Veränderungen, Finanzierungsmöglichkeiten und internationale Zusammenarbeit – kann zu effektiveren, integrativeren und nachhaltigeren Lösungen führen.
Dr. Hanna Shvindina ist Fellow im Ukraine Research Network@ZOiS, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird.