„Wir haben geöffnet“: Was Daten über die Lage der ukrainischen Wirtschaft erzählen
Dass die Wirtschaft der Ukraine den Angriffen Russlands standhält, ist entscheidend für das Land, vor allem wenn es um die Rückkehr der Geflüchteten aus dem Ausland und den Wiederaufbau geht. Doch wie geht es den Unternehmen vor Ort? Umfragen geben Einblick in die aktuelle wirtschaftliche Lage und die Aussichten.
Mehr als zweieinhalb Jahre nach Beginn der groß angelegten Invasion Russlands in der Ukraine lässt sich festhalten: Die ukrainische Wirtschaft hat dem Ansturm standgehalten. Am zweiten Tag nach Beginn der Angriffe tauchten an den vernagelten Fenstern vieler Gebäude Schilder mit der Aufschrift „Wir haben geöffnet“ auf. Und während der Stromausfälle schaltet ein kleines Café im Erdgeschoss meines mehrstöckigen Wohnhauses einen Generator ein und serviert Kaffee für diejenigen, die es eilig haben, zur Arbeit zu kommen.
Diese Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Wirtschaft ist aus mehreren Gründen von strategischer Bedeutung. Erstens: Wenn ich sehe, wie meine Nachbarn auf dem Weg zur Arbeit für einen Kaffee anstehen, zeigt das, dass sie Arbeit haben. Das wiederum bedeutet, dass sie zum Bruttoinlandsprodukt der Ukraine beitragen, die Staatskasse füllen und die Nachfrage stützen. Zweitens ist die Möglichkeit einer angemessenen Beschäftigung in der Ukraine ein entscheidender Faktor für die Rückkehr von Geflüchteten aus dem Ausland, wie Studien, etwa des Centre for Economic Strategy, bestätigen. Drittens spielt die Wirtschaft bereits eine Schlüsselrolle bei den Wiederaufbaubemühungen der Ukraine, selbst wenn die Feindseligkeiten noch andauern.
Die Stabilität der ukrainischen Wirtschaft sollte also gut überwacht werden, vor allem um Probleme rechtzeitig zu erkennen und Unterstützung leisten zu können. Daten zum Zustand der ukrainischen Wirtschaft werden regelmäßig von unterschiedlichen Organisationen erhoben: der Nationalbank der Ukraine (NBU), dem Institut für Wirtschaftsforschung und Politikberatung (IER) und der Advanter Group, die mit dem Zentrum für Innovationsentwicklung, dem Büro für Unternehmertum und Exportförderung und dem nationalen Projekt Diia.Business zusammenarbeitet. Jede dieser Organisationen befragt regelmäßig mehrere hundert Unternehmen.
Wenn es jedoch darum geht, sich einen allgemeinen Überblick über den Zustand und die Aussichten der ukrainischen Wirtschaft zu verschaffen, gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Daten aus diesen Quellen. So zeigen beispielsweise die Antworten auf Fragen zur aktuellen Lage der Unternehmen unterschiedliche Perspektiven auf. In der Umfrage der NBU vom zweiten Quartal 2024 bezeichneten 18,3 Prozent der Unternehmen ihre Situation als „schlecht“. Im Gegensatz dazu ergab die Umfrage des IER vom August 2024 eine etwas niedrigere Zahl von 16,1 Prozent, während die Advanter-Umfrage desselben Monats eine höhere Zahl von 22,5 Prozent ergab. Was die Nettobewertung der Unternehmenslage betrifft – berechnet als Differenz zwischen denjenigen, die mit „gut“ und denjenigen, die mit „schlecht“ geantwortet haben – war der Unterschied noch deutlicher: In den Umfragen von NBU und Advanter waren die Einschätzungen insgesamt negativ, während sie in der IER-Umfrage positiv waren.
Noch auffälliger war der Unterschied bei den Zukunftserwartungen der Unternehmen. In der NBU-Umfrage waren die Anteile derjenigen, die glaubten, dass sich ihre Aussichten verschlechtern würden, und derjenigen, die glaubten, dass sie sich verbessern würden, mit etwa 14 Prozent fast gleich groß. In der Advanter-Umfrage erwarteten 41,2 Prozent der Befragten eine Verbesserung und 28,3 Prozent eine Verschlechterung. Die IER-Umfrage ergab ein noch optimistischeres Bild: 37,2 Prozent gaben an, dass sich die Lage verbessern würde, während nur 9,7 Prozent angaben, dass sie sich verschlechtern würde. Warum stimmen die Ergebnisse so angesehener Organisationen so wenig überein?
Die Größe ist entscheidend
Eine mögliche Erklärung ist, dass es einen signifikanten Unterschied in der Stichprobenstruktur gibt, die in den Umfragen verwendet wird. Obwohl in allen Umfragen Geschäftsleitungen befragt werden, unterscheiden sich die Unternehmen in den Stichproben in ihrer Größe. So stellt die NBU beispielsweise sicher, dass ihre Stichprobe kleine, mittlere und große Unternehmen gleichermaßen repräsentiert. Dieser Ansatz ermöglicht es, den Zustand jeder Gruppe separat zu bewerten. Jedoch spiegeln die Gesamtergebnisse nicht den Zustand der ukrainischen Wirtschaft als Ganzes wider.
Dies liegt daran, dass laut dem Staatlichen Statistikdienst der Ukraine 94 Prozent aller ukrainischen Unternehmen kleine, 6 Prozent mittelgroße und nur 0,2 Prozent große Unternehmen sind. Gleichzeitig erwirtschaften kleine Unternehmen nur 19 Prozent des Gesamtumsatzes und beschäftigen 27 Prozent der Arbeitskräfte. Große Unternehmen erwirtschaften trotz ihrer geringen Anzahl 36 Prozent des Umsatzes und beschäftigen 25 Prozent der Arbeitnehmer*innen.
Die Advanter-Stichprobe ähnelt in ihrer Struktur eher der allgemeinen Bevölkerung. In dieser Umfrage sind 89 Prozent der Unternehmen klein, 8,9 Prozent mittelgroß und 2 Prozent groß. Die Stichprobenstruktur des IER ähnelt eher der der NBU, mit einer ähnlichen Tendenz zu großen und mittelgroßen Unternehmen. Die IER-Umfrage konzentriert sich jedoch auf die Industrie und deckt kaum so wichtige Wirtschaftszweige wie Handel und Dienstleistungen ab.
Laut dem Staatlichen Statistikdienst der Ukraine haben kleine Unternehmen seit Beginn der Invasion am meisten gelitten. Von 2021 bis 2022 ging die Zahl der Großunternehmen um 19 Prozent zurück, die der mittelgroßen Unternehmen um 16 Prozent und die der kleinen Unternehmen um 30 Prozent.
Bei der Analyse von Daten verschiedener Anbieter lohnt es sich daher, die Advanter-Daten, bei denen kleine Unternehmen überwiegen, mit der NBU-Teilstichprobe kleiner Unternehmen zu vergleichen. Allerdings bleiben auch nach einer solchen Aufschlüsselung der Stichproben gewisse Verzerrungen bestehen. So sind die NBU-Befragten beispielsweise pessimistischer als die von anderen Anbietern Befragten.
Trotz der Unterschiede gibt es auch viele Gemeinsamkeiten in den Daten. So zeigen die Umfragen von NBU und IER deutlich, dass sich die Befragten in großen Unternehmen besser fühlen als die in kleinen und mittleren Unternehmen. Darüber hinaus erwarten Befragte kleiner Unternehmen häufiger, dass sich ihre Lage verschlechtert.
Ein Plan für den Sieg: Strategie und Dialog
Auch bei den Problemen, mit denen Unternehmen konfrontiert sind, gibt es viele Gemeinsamkeiten. Die NBU nennt als die drei größten Herausforderungen den Mangel an Fachkräften, die unzureichende Nachfrage und die hohen Preise für Rohstoffe und Energie. Große Unternehmen leiden deutlich stärker unter Personalmangel als kleine und mittlere Unternehmen, während andere Probleme für Unternehmen jeder Größe gleichermaßen bestehen. Auch bei Advanter und IER gehört der Arbeitskräftemangel zu den drei größten Problemen.
Allerdings ist es nicht einfach, sich ein einheitliches Bild von den Herausforderungen für Unternehmen zu machen, da die möglichen Probleme, aus denen die Umfrageteilnehmenden auswählen sollten, sich unterscheiden. So konzentrieren sich beispielsweise die NBU und das IER mehr auf rein wirtschaftliche Fragen wie die Kosten für Rohstoffe und die geringere Nachfrage. Advanter hingegen nennt Probleme wie unvorhersehbare Entwicklungen in der Ukraine und auf ausländischen Märkten aufgrund des Krieges und unvorhersehbare Maßnahmen des Staates. Laut Advanter gehören diese beiden Probleme und der Personalmangel seit November 2023 durchgehend zu den drei größten Problemen der Unternehmen.
Diese Daten werden indirekt durch die IER-Studie bestätigt, in der Unternehmen nach ihrer Meinung zur Politik der Regierung zur Unterstützung von Unternehmen befragt werden. Die Nettobewertung dieser Maßnahmen durch die Befragten – die Differenz zwischen positiven und negativen Antworten – änderte sich im Juli 2023 zum Negativen und hat sich seitdem verschlechtert, mit einem starken Rückgang im August 2024.
Diese Risiken können erheblich gemindert werden, wenn die Regierung eine klare Strategie veröffentlicht und einen Dialog mit der Wirtschaft aufnimmt. Am 16. Oktober 2024 stellte Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Siegesplan für den Krieg vor. Auch die ukrainische Wirtschaft braucht einen Siegesplan: Ein klares Zeichen der Absichten der Regierung würde die Unsicherheit verringern und die Stimmung unter den Wirtschaftsführern verbessern. Vor einem Jahr veröffentlichte eine Koalition ukrainischer Unternehmen ein Memorandum, in dem das Fehlen einer solchen Strategie als rote Linie für die ukrainische Wirtschaft bezeichnet wurde. Dass ukrainische Unternehmen in die Formulierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen einbezogen werden, ist für Unternehmer*innen ebenfalls von entscheidender Bedeutung. Die ukrainischen Unternehmen sind bereit, sich an der Entwicklung der zukünftigen Strategien und Maßnahmen des Landes zu beteiligen.
Anastasiya Shurenkova ist Wissenschaftlerin mit umfassender Erfahrung in der Konzeption und Durchführung soziologischer Erhebungen und Datenanalysen. Bis September 2024 war sie Fellow im Ukraine Research Network@ZOiS, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird.