Tbilisi Pride und die Orthodoxe Kirche in Georgien
Der für den 5. Juli geplante "March for Dignitiy" der Tbilisi Pride 2021 wurde aufgrund von Sicherheitsbedenken kurzfristig abgesagt. Im Laufe des Tages kam es zu Gegendemonstrationen, zu Vandalismus und zu Gewalt gegen das Organisationsbüro, Journalist*innen und Aktivist*innen. Regina Elsner, Expertin für Sozialethik der orthodoxen Kirchen, ordnet die Situation für uns ein.
Wie ist die rechtliche und gesellschaftliche Situation für LGBTIQ* in Georgien verglichen mit anderen Ländern des postsowjetischen Raums?
Menschen, deren sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität nicht in die heterosexuelle Norm passt, haben es in den meisten postsowjetischen Ländern schwer. Zwar gibt es nicht in in allen Ländern ausdrücklich homophobe Gesetzgebungen – wie etwa das in Russland 2013 verabschiedete Gesetz gegen die Propaganda von Homosexualität – doch sind in den meisten Gesellschaften traditionelle Geschlechterrollen und Familienbilder tief verwurzelt. Alles, was sich von diesem Muster unterscheidet, gilt als fremd, westlich-dekadent und als eine Gefahr für die eigene Identität. In dieser Gegenüberstellung von angeblich westlichen, liberalen Werten mit traditionellen Werten wird das Engagement der EU für eine liberale Gleichstellungspolitik oft scharf kritisiert. Georgien hat darum rechtlich einen minimalen Diskriminierungsschutz verankert, allerdings gibt es keine Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, und Hassverbrechen gegen LGBTIQ* werden nicht strafrechtlich verfolgt. Seit vielen Jahren werden öffentliche Aktionen zur Solidarität mit LGBTIQ* - etwa die Tbilisi Pride oder Filmvorführungen – im Vorfeld unter Druck gesetzt und dann gewaltsam angegriffen. Die gesellschaftliche Einstellung zu Homosexualität in Georgien gehört zu den negativsten in ganz Europa.
Wie positioniert sich die Orthodoxe Kirche Georgiens zu den Rechten von LGBTQ*?
Wie alle Orthodoxe Kirchen steht auch die Georgische Orthodoxe Kirche (GOC) den Rechten von LGBTIQ* äußerst kritisch gegenüber. Gewalt gegen diese soziale Gruppe wird zwar als unzulässig verurteilt. Gleichzeitig stellt die Kirche homosexuelle Orientierung als widernatürlich dar und kritisiert das öffentliche Thematisieren „nichttraditioneller sexueller Orientierung“ als „Propaganda“. Die Kirche fördert aktiv Initiativen zum Schutz sogenannter traditioneller Werte, wie zum Beispiel den 2016 in Tbilisi organisierten „World Congress of Families“ , der als ein internationales Bollwerk homophober und rechtskonservativer Akteur*innen gilt. Gleichzeitig kämpft die GOC selbst mit Skandalen über Homosexualität unter Klerikern, was ein absolutes Tabu-Thema ist. Eine theologische Auseinandersetzung mit Gender gibt es in der GOC wie in den meisten orthodoxen Kirchen nicht, individuelle Menschenrechte werden kritisch bewertet.
Welche Rolle spielt die Orthodoxe Kirche Georgiens bei den aktuellen Gewaltausbrüchen?
Wie bereits bei den Protesten gegen die Tbilisi Pride in den vergangenen Jahren spielt die GOC eine sehr problematische Rolle. Am 4. Juli veröffentlichte die Kirchenleitung eine Stellungnahme, in der sie die Organisator*innen und Unterstützer*innen der Pride – darunter ausdrücklich ausländische Botschaften – aufruft, die Demonstration abzusagen, um „Stabilität und Bürgerfrieden im Land“ nicht zu gefährden. Die Aktivitäten der LGBTIQ*-Community würden Spannungen und Unruhe im Volk hervorrufen, die Verantwortung für diese Unruhen lägen vollständig auf den Organisator*innen und Unterstützter*innen. Mit der Umkehrung von Gewaltopfer und Gewaltursache wiederholt die GOC die typischen Argumentationsmuster xenophober Akteur*innen, wonach Gewalt gegen die Aktivist*innen gerechtfertigt ist als Schutz vor deren Angriff gegen „das Volk“. Gläubige werden aufgerufen, sich an einer zentralen Kirche zum Gebet zu treffen, um sich in ihrem friedlichen Protest nicht durch die Aktionen der Pride zu Gewalt „provozieren“ zu lassen. Mehrere Priester waren aktiv an den gewaltsamen Ausschreitungen am Montagvormittag beteiligt, die Kirchenleitung kritisiert die Gewalt gegen den „Marsch der Würde“ nicht.
Wirklich neu an dem Statement der Kirchenleitung ist vor allem die direkte Beschuldigung der europäischen Botschaften, Druck auf die georgische Gesellschaft auszuüben und damit ihre Autorität zu missbrauchen. Das Schreiben enthält außerdem kein einziges theologisches Argument oder einen Appell an christliche Werte. Diese Rhetorik zeigt das Ausmaß, in dem sich die Kirche mit nationalen politischen Interessen identifiziert.