Gesellschaftliche Fragmentierung in Belarus
Über ein Jahr ist es her, dass infolge der Präsidentschaftswahl 2020 in Belarus Antiregierungsproteste ausbrachen. Die Erfolgsbilanz der Protestbewegung fällt indes ernüchternd aus. Belarusische und russische Medien sprechen davon, erfolgreich eine weitere Farbenrevolution verhindert zu haben, und belarusische Politiker*innen verkünden stolz, dass sie es geschafft hätten, die staatlichen Strukturen von Russland und Belarus zu stärken. Unterdessen haben die Proteste ihre unmittelbaren Ziele eindeutig verfehlt: Nach wie vor ist Präsident Aljaksandr Lukaschenka die dominierende Figur des politischen Systems in Belarus. Er konnte seine Kontrolle über die Eliten und die Gesellschaft des Landes ausweiten, nahm dabei jedoch eine verstärkte Abhängigkeit von Russland in Kauf.
Auch wenn ein politischer Wandel mittlerweile unwahrscheinlich erscheint, sollte die Analyse autoritärer Systeme ihre Aufmerksamkeit nicht bloß auf die politische Elite richten, sondern die tiefgreifenden sozialen Veränderungen anerkennen, die mit gesellschaftlichen Brüchen einhergehen – selbst dann, wenn sie nicht zu institutionellem Wandel führen. Mit dem Ziel, diese sozialen Veränderungen zu erfassen, führte das ZOiS im Juli 2021 eine Onlineumfrage unter 2.000 Belarus*innen im Alter von 16 bis 64 Jahren durch, die in Orten mit mehr als 20.000 Einwohner*innen leben. Dabei wurde eine Quotenstichprobe gezogen, die im Hinblick auf Geschlecht, Alter und Wohnort die zugrundeliegende Bevölkerungsstruktur abbildet. Die Einzigartigkeit der Umfrage lag darin, dass größtenteils dieselben Personen befragt wurden, die bereits an einer ersten Umfragerunde im Dezember 2020 teilgenommen hatten.
Anhaltende soziale Fragmentierung
Im Februar 2021 beleuchtete ein ZOiS Spotlight die allgemeinen Einstellungen der belarusischen Gesellschaft zur politischen Situation im Land. Dabei wurden die Befragten als sehr regimetreu, eher regimetreu, unentschieden, eher regimekritisch oder sehr regimekritisch klassifiziert[1]. Zwischen Dezember 2020 und Juni 2021 gab es keine signifikante Veränderung der Anzahl von Personen in den jeweiligen Kategorien (Grafik 1). Etwa die Hälfte der Befragten waren regimekritisch eingestellt. Ihr Anteil verringerte sich zwischen den beiden Umfragen leicht, während der Anteil der Unentschiedenen stieg. Ungefähr ein Drittel der Befragten stand weiterhin hinter dem Regime.
Grafik 1: Einstellungen von Belarus*innen gegenüber dem Regime im Dezember 2020 und Juni 2021 im Vergleich
In den Standpunkten der Befragten spiegelten sich ihre Einstellungen gegenüber den Institutionen und Symbolen des Regimes, ihre Wahlentscheidung, ihre Partizipation an Protesten, ihre Meinungen über die nach den Wahlen ausgebrochenen Demonstrationen, und allgemeinere politische Einstellungen wider. Der Anteil der Befragten, die überhaupt kein Vertrauen in den Präsidenten besaßen, fiel zwischen Dezember 2020 und Juni 2021 von 45 auf 41 Prozent, während der Anteil derjenigen stieg, die auf die Frage, ob sie Lukaschenka vertrauen, keine Antwort gaben. Im Vergleich mit der öffentlichen Meinung vor 2020 ist seit der Präsidentschaftswahl ein tiefgreifender Einstellungswandel unter den Belarus*innen zu beobachten. Damals genoss Lukaschenka eine hohe persönliche Zustimmung, die sich aus einer Kombination aus Repression, Kooptation und einem gewissen Grad an Legitimität speiste.
Wie bereits in früheren Untersuchungen zeigte sich auch in der ZOiS-Umfrage ein Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Befragten und ihren Einstellungen zum Regime. Unter den befragten Frauen waren im Juni 2021 15,5 Prozent sehr regimetreu eingestellt, während es bei den Männern 11,2 Prozent waren. Weibliche Befragte waren zudem mit einer signifikant geringeren Wahrscheinlichkeit sehr regimekritisch eingestellt.
Ein weiterer einschlägiger Faktor ist das Alter der Befragten. Junge Menschen haben ihre Ablehnung des Regimes lautstark zum Ausdruck gebracht, und die Gewalt, die von ihm ausgeht, als Demonstrierende überproportional zu spüren bekommen. Junge Menschen sind außerdem in sozialen Medien aktiv, wo sich häufig über den Präsidenten lustig gemacht wurde. Eine genauere Analyse zeigt, dass sehr regimetreue Einstellungen stark mit einem höheren Alter der Befragten korrelieren. Dieser Zusammenhang verstärkte sich zwischen Dezember 2020 und Juni 2020 noch, da ältere Menschen dazu neigten, dem Regime gegenüber wohlwollender zu werden.
Gleichzeitig stehen regimekritische Einstellungen in keinem systematischen Zusammenhang mit dem Alter. Wenn überhaupt ist auch die Wahrscheinlichkeit einer sehr regimekritischen Einstellung unter älteren Befragten erhöht. Unter den älteren Belarus*innen fanden sich also diametral entgegengesetzte Einstellungen: Im Vergleich zum Rest der Bevölkerung gab es unter ihnen sowohl einen größeren Anteil von sehr regimetreuen als auch sehr regimekritischen Menschen.
Außerdem besteht Lukaschenkas Basis nach wie vor vor allem aus Menschen, die in kleineren Ortschaften leben, sich als orthodox verstehen, über einen niedrigeren Bildungsgrad, aber ein höheres Einkommen verfügen, und ungeachtet ihres Einkommens im öffentlichen Sektor beschäftigt sind. Diese grundlegenden Indikatoren spielen eine wichtige Rolle, um die politischen Einstellungen zu verstehen, und machen deutlich, wie fragmentiert die belarusische Gesellschaft mittlerweile ist. Menschen mit entgegengesetzten Ansichten auf die gegenwärtige Politik können weitestgehend in verschiedenen Welten leben.
Was sollte für Belarus Priorität besitzen?
Auf die Frage, welchen Ausweg aus der momentanen Krise sie bevorzugen würden, antwortete eine deutliche Mehrheit der Befragten, dass sie sich Neuwahlen wünschen würden – 43 Prozent im Dezember 2020 und 53 Prozent im Juni 2021. Auch eine Verfassungsreform stand immer noch weit oben auf der Wunschliste der Befragten; dieser Prozess ist im Gange, wird jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach die Macht des Präsidenten weiter festigen.
Mit Blick auf die Zukunft des Landes wurden von den Befragten verschiedene Prioritäten genannt, die sich in drei Kategorien einteilen lassen (Grafik 2). Die erste Kategorie drehte sich um Fragen der politischen Partizipation. Viele Belarus*innen nannten eine echte Beteiligung der Bürger*innen am politischen Prozess als höchste und die Unabhängigkeit der Gerichte als zweithöchste Priorität für die Zukunft ihres Landes. Protestbezogene Themen oder die Entwicklung des Parteiensystems waren deutlich weniger prominent vertreten.
Die zweite Kategorie umfasste wirtschaftliche Prioritäten. Für die Befragten waren die Schaffung von Arbeitsplätzen und ein verbesserter Lebensstandard eindeutig die drängendsten Aufgaben, gefolgt von einer Verbesserung des Gesundheitssystems.
Die dritte Kategorie bezog sich auf die Frage der belarusischen Autonomie, die von den Befragten weiterhin am häufigsten als erste Priorität genannt wurde – im Juni 2021 sogar noch häufiger als im Dezember 2020. Vor dem Hintergrund der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung von Belarus und Russland könnte die Angst, dass Minsk seine Souveränität aufgibt, um sich die Unterstützung des Kremls zu sichern, die Unzufriedenheit der Belarus*innen mit der Führung ihres Landes weiter verstärken.
Grafik 2: Meinungen der Belarus*innen, was für Belarus Priorität haben sollte im Dezember 2020 und Juni 2021 im Vergleich
Weite Teile der belarusischen Gesellschaft sind durch eine tiefe Kluft von den politischen Eliten des Landes getrennt. Gleichzeitig wird das wirtschaftliche und politische Klima immer angespannter. Finanzielle Sorgen sind allgegenwärtig. Achtzig Prozent der Befragten sorgten sich über ihre finanzielle Lage in den nächsten sechs Monaten. Währenddessen verschärft das Regime seine Kontrolle über die Gesellschaft und lässt immer weniger Raum für politischen Aktivismus. Anfang Oktober 2021 leiteten die belarusischen Behörden ein Strafverfahren wegen „unerlaubter Machtaneignung“ gegen die Oppositionsführer*innen Swjatlana Zichanouskaja und Pawel Latuschka ein. Dem politischen Engagement der Menschen werden solche Maßnahmen wahrscheinlich Grenzen setzen, die Kluft zwischen Gesellschaft und politischer Elite wird sich jedoch nur weiter vergrößern, wenn das belarusische Regime die Sorgen und Erwartungen gewöhnlicher Belarus*innen ignoriert.
[1] Bei den Daten für Dezember 2020, die hier präsentiert werden, gibt es einen geringfügigen Unterschied. Dies ist darauf zurückzuführen, dass eine Frage in der Juni-Erhebung nicht gestellt wurde. Sie wurde durch eine andere ersetzt, um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten und die Entwicklung im Laufe der Zeit darzustellen.
Die erste Umfrage im Dezember 2020, die hier als Vergleichsmaßstab herangezogen wird, wurde vom Auswärtigen Amt finanziert. Die zweite Umfrage im Juni 2021 wurde vom ZOiS finanziert.
Félix Krawatzek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS, wo er den Forschungsschwerpunkt „Jugend in Osteuropa“ leitet.