Meet the Author | Nina Frieß und Félix Krawatzek

„Staaten investieren viel Zeit und Mühe, die Werte junger Menschen zu beeinflussen“

18.10.2022
Warschau, September 2022: Eine Studentin hält ein Schild mit der Aufschrift „Bildung statt Indoktrination“ während eines Protestes gegen die Einführung eines neuen Geschichtslehrbuchs. IMAGO / NurPhoto

Warum stehen junge Menschen derart im Fokus staatlich geschaffener historischer Narrative?

Krawatzek: Ich denke, es lassen sich hier zwei Dimensionen unterscheiden. Zum einen geht es darum, welche diskursiven Möglichkeiten es eröffnet, über die Jugend zu sprechen. Es schafft einen Imaginationsraum, der sich auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich bezieht. Wer bestimmen kann, was als angemessen gilt, wenn man über die Jugend spricht, verfügt deshalb über viel Macht. Der Jugenddiskurs liefert ein Zukunftsnarrativ, da es selbstverständlich auch in der Zukunft noch Jugendliche geben wird. Politische Führer*innen können mit seiner Hilfe also versuchen zu zeigen, dass sie selbst und die von ihnen geführte Nation über den gegenwärtigen Augenblick hinausgehen. Gleichzeitig erlaubt der Jugenddiskurs es Politiker*innen, Autor*innen und Kommentator*innen aber auch, in der Zeit zurückzugehen. Schließlich gab es auch früher schon Jugendliche.

Neben der diskursiven gibt es noch eine zweite Dimension, die wir die demographische oder biologische nennen können. Aufgrund ihres Alters, und da sie sich häufig noch in bestimmten Bildungskontexten oder beruflichen Übergangsphasen befinden, sind junge Menschen einem viel unmittelbareren Einfluss des Staates ausgesetzt als Menschen in späteren Lebensphasen. Im Gegensatz zur Kindheit ist die Jugend eine Zeit, in der die Auseinandersetzung mit der Geschichte einen starken Eindruck hinterlässt, da die Jugendlichen beginnen, sich ihre eigenen politischen oder sozialen Meinungen zu bilden und sich möglicherweise auch von den Ansichten ihrer Familie zu lösen. Deshalb investieren Staaten viel Zeit und Mühen darein, die sozialen und politischen Werte junger Menschen zu beeinflussen.

Frieß: Diesen zweiten Punkt würde ich gerne nochmal betonen. Auch in demokratischen Gesellschaften gibt es keinen anderen Lebensabschnitt, in dem andere Menschen so viel für einen entscheiden. Das bedeutet aber natürlich nicht – und das zeigt unser Band – dass der Staat, die Regierung oder wer auch immer mit seinen Bemühungen, das Denken junger Menschen zu formen, immer erfolgreich ist. Welche historischen Narrative jungen Menschen vermittelt werden und was sie schlussendlich daraus machen, sind häufig zwei komplett verschiedene Dinge.

Ihr Band betont, dass junge Menschen die Erinnerungen, die an sie weitergegeben werden, nicht einfach absorbieren, sondern „die ihnen vermittelten historischen Narrative auf neue – und potenziell subversive Weisen – zum Ausdruck bringen“. Sind ihre Möglichkeiten dazu in autoritären Staaten nicht sehr begrenzt?

Frieß: Ich denke, das sind sie. Schließlich stellt es für autoritäre Regime ein Risiko dar, die Menschen einfach denken zu lassen, was sie wollen. Natürlich versuchen sie das deshalb zu kontrollieren. Oft hinken die Regime jedoch einen Schritt hinterher, weil sie weiterhin auf traditionelle Methoden setzen, junge Menschen zu beeinflussen. Damit meine ich vor allem Lehrbücher und das Fernsehen. Wir sehen aber, dass junge Menschen sich heutzutage anderen Medien zuwenden. In autoritären Staaten versuchen viele Menschen über unabhängige Internetquellen an alternative Informationen heranzukommen. Und selbst dann, wenn bestimmte Inhalte im Internet zensiert oder gesperrt werden, bleiben immer auch noch gewisse Kanäle, die frei von staatlicher Kontrolle sind. Zum Beispiel nutzen Regierungen TikTok bislang nicht in nennenswertem Maße, um das Denken junger Menschen zu beeinflussen, und wenn sie es erstmal für sich entdecken, werden junge Menschen garantiert einen Ersatz finden.

Entscheidend ist jedoch nicht nur die Verfügbarkeit von Informationen. In Russland haben junge Menschen zum Beispiel durchaus Zugang zu Sichtweisen auf die russische Geschichte, die den staatlichen Narrativen widersprechen. Das ist jedoch keine Garantie dafür, dass sie die entsprechenden Inhalte auch wirklich konsumieren oder sich deren Sichtweise zu eigen machen.

Krawatzek: Es muss außerdem betont werden, dass Politiker*innen nicht die einzigen Akteure in autoritären Staaten sind, die versuchen jungen Menschen bestimmte Erinnerungen einzuimpfen. Die wichtigste Konkurrenz stellt die Familie dar. Wir können zeigen, dass die historische Erfahrung einer Familie – so divers und in sich widersprüchlich sie auch sein mag – die historischen Erinnerungen junger Menschen auch in autoritären Staaten entscheidend beeinflusst. Nachkommen von Familien, die während des Großen Vaterländischen Kriegs oder Stalins Großem Terror besonders stark gelitten haben, verfügen meist auch drei oder vier Generationen später noch über ein größeres historisches Interesse, wissen mehr über die damaligen Ereignisse und sehen sie kritischer. Zudem schauen diejenigen, die Stalin als Anführer der Sowjetunion gegenüber kritischer sind, häufig auch kritischer auf den aktuellen russischen Präsidenten. Für den Staat ist es äußerst schwierig, diese Übertragungsdynamiken innerhalb der Familien zu durchdringen. Wie Nina beschreibt, können staatliche Akteure zwar versuchen, den öffentlichen Raum, die Medien und das Bildungssystem unter ihre Kontrolle zu bringen. Was aber derart intime, persönliche und zugleich authentische historische Narrative angeht, ist die Kontrolle weitaus schwieriger. Autoritäre Staaten liefern sich deshalb einen Glaubwürdigkeitswettstreit mit der Familie. Wenn Ihnen die eigene Großmutter erzählt, wie sehr ihr Vater im Gulag gelitten hat und mit was für schweren Schäden er zurückgekehrt ist, dann ist das ein eindrucksvolles persönliches Zeugnis, das obendrein auch noch mit einem Authentizitätssiegel versehen ist. Selbst wenn ein autoritärer Staat social-media-affin ist, kann er dieser Authentizität wenig entgegensetzen.

Ich war erstaunt über die Vielfalt historischer Auffassungen, die sie unter jungen Belarus*innen finden konnten, und wie sie sich in dieser Hinsicht von ihren russischen Altersgenoss*innen unterscheiden. Wie erklären Sie sich diese Ergebnisse?

Krawatzek: Mich hat das ebenfalls erstaunt. Ich glaube, dass das belarusische Regime es mit seiner Kontrolle über die Medien schlichtweg zu weit getrieben hat. Das hat zu einer stärkeren Ablehnung von allem, was von oben kommt, geführt. Dass es in den offiziellen Medien keinerlei Zwischentöne gibt, befeuert diese Ablehnung. Im Gegensatz dazu ist der historische Diskurs in Russland von einer größeren Pluralität geprägt – oder zumindest war er es bis zum Februar dieses Jahres. Möglicherweise war die Propaganda in Russland genau deshalb wirksamer als in Belarus, weil sie ein begrenztes Maß an Vielfalt zugelassen hat. Ein weiterer Grund ist, dass die Menschen in Belarus nicht mit demselben Gefühl der Bedrohung über ihre eigene Geschichte insbesondere während des Zweiten Weltkriegs sprechen. Die in Russland zu beobachtende Wagenburgmentalität – wir müssen unsere Interpretation der Geschichte verteidigen, weil der Westen uns unseren Sieg stehlen will – ist in Belarus nicht im selben Maße vorherrschend. Hier spielt noch ein anderer Faktor eine Rolle: Belarus*innen können sich dem heroischen Narrativ des Großen Vaterländischen Krieges nicht rückhaltlos verschreiben, weil in Belarus im Verhältnis zur Vorkriegsbevölkerung die meisten Menschen gestorben sind. Die Gewalt und das Ausmaß zerstörter Infrastruktur waren in ihrer Größenordnung unvergleichbar. Das in Russland herrschende Heldennarrativ steht in krassem Gegensatz zur belarusischen Erfahrung.

Frieß: Ich denke, dass sich dieser Unterschied zwischen Belarus und Russland auch an den Sprüchen ablesen lässt, die man in Belarus hört. In Russland hat sich in den letzten Jahren immer mehr die Haltung ausgebreitet: „Okay, wir können es nochmal schaffen, einen Krieg zu gewinnen.“ In Belarus sagten die Menschen aber bis zum 24. Februar oft: „Solange es keinen Krieg gibt, ist alles gut.“ Und jetzt sagen sie: „Solange der Krieg bald vorbei ist.“ Meiner Meinung nach sagt das viel aus. Ein weiterer Aspekt ist, dass insbesondere junge Belarus*innen vor der Covid-19-Pandemie viel mehr innerhalb Europas gereist sind als Russ*innen. Sie erlebten die lebhaften Erinnerungsdebatten in Europa also aus erster Hand, was einen natürlich über so manches anders nachdenken lässt.

Einige der Beiträge beschäftigen sich mit Kinderbüchern als einem Ort, wo alternative historische Narrative zum Ausdruck gebracht werden können und junge Menschen dazu ermutigt werden, sich kritisch mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Frieß: In Russland etwa ist das stark ausgeprägte staatliche Narrativ vom Heroismus der Kriegszeit auch in den Kinderbüchern der Sowjetzeit zu finden. Was jedoch interessant ist und auch mich sehr überrascht hat, ist die Tatsache, dass sich keines der neueren Kinderbücher in dieser Hinsicht an das Drehbuch des Kremls hält. Stattdessen finden wir in Kinderbüchern haufenweise alternative Narrative. Auf diesem Feld scheint eine relativ große Freiheit zu herrschen, weil der Kreml ihm schlichtweg nicht genug Bedeutung beimisst. Dementsprechend gibt es Bilderbücher, die sich mit der russischen Geschichte im 20. Jahrhundert auseinandersetzen. Ich denke hier vor allem an das Buch „In einem alten Haus in Moskau. Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte “, das nicht nur auf dem russischen, sondern auch dem internationalen Buchmarkt sehr erfolgreich war. Es erzählt die Geschichte einer Wohnung in Moskau und seiner Bewohner*innen über das 20. Jahrhundert hinweg. Es hebt zwar einige heroische und siegreiche Momente des Zweiten Weltkriegs hervor, spricht aber auch über die Verluste. Man sieht einen Soldaten, der sein Bein verloren hat, und Verwandte der Familie, die in der Wohnung lebte, berichten von ihrem Tod im Zweiten Weltkrieg. Das sind Sachen, die wir im offiziellen Diskurs natürlich nicht finden. Ähnliches sehen wir auch in anderen Ländern wie Polen, wo die Regierung ein Heldennarrativ etablieren möchte, das gleichzeitig auch ein Opfernarrativ sein soll. Teile der zeitgenössischen Kinderliteratur ziehen dieses Narrativ in Zweifel, indem sie die Frage stellen, warum die Menschen sich derart für den Staat opfern mussten.

Auf welche Weisen stellt Ihr Band die Annahme einer universellen „kosmopolitischen“ Erinnerung an den Holocaust infrage?

Krawatzek: Es ist richtig, dass die kosmopolitische Erinnerung – eine Form der Erinnerung an den Holocaust, die die Opfer und ihre Rechte in den Mittelpunkt stellt – sich seit den 1970er-Jahren immer mehr zur globalen Norm entwickelt hat. In unserem Band können wir die lokalen Wirklichkeiten dieser globalen Norm aufzeigen, was sie also in konkreten Gesellschaften und besonderen Fällen tatsächlich bedeutet. Da diese abstrakte Norm sich immer unter spezifischen lokalen Bedingungen verwirklicht, die durch ihre jeweils eigenen Erfahrungen des Holocaust geprägt sind, könnte es meiner Ansicht nach verwirrend sein, überhaupt von einer universellen Norm zu sprechen. Das klingt so, als würde sie in verschiedenen Gesellschaften immer gleich aussehen. Sie kann sich aber selbst innerhalb einer Gesellschaft auf unterschiedliche Weisen manifestieren. Was bedeutet die Norm des Holocaustgedenkens zum Beispiel für die Nachkommen türkischer Migrant*innen in Deutschland verglichen mit weißen, christlichen Mittelschichtsdeutschen? Auf einer analytischen Ebene passen wir deshalb auf, die universale Dimension kosmopolitischer Erinnerung nicht überzubetonen, um stattdessen auf die Bedeutung regionaler Diversität aufmerksam zu machen.

Das Gespräch führte Anne Boden, Redakteurin für englischsprachige Publikationen am ZOiS.


Félix Krawatzek ist Politikwissenschaftler und leitet den Forschungsschwerpunkt Jugend und generationeller Wandel am ZOiS.

Nina Frieß ist Slavistin am ZOiS und forscht zu aktuellen Tendenzen in den globalen russophonen Literaturen.

Félix Krawatzek & Nina Frieß (Hrsg.): Youth and Memory in Europe. Defining the Past, Shaping the Future. Berlin, Boston: De Gruyter, 2022.