Russland-Kanadier*innen: Ansichten zu Politik, Geschichte und Gesellschaft
Zusammenfassung
Kanada ist ein multikulturelles Land, in dem Migrant*innen mit (sowjet-)russischem Hintergrund eine von vielen Minderheiten darstellen. Dieser Bevölkerungsgruppe wurde bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass sie weitgehend in der Gesamtbevölkerung aufgeht und die sozioökonomische Integration von Neuankömmlingen aus Russland in der Regel relativ reibungslos verläuft. Obwohl Menschen mit (sowjet-)russischem Hintergrund keine große demografische Gruppe darstellen, machen Russischsprachige, wozu auch Migrant*innen aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken gehören, einen beträchtlichen Teil der Migrant*innen aus, die keine der beiden offiziellen Sprachen Kanadas als Muttersprache sprechen. Der Kreml betrachtet diese Gruppe als Ressource, die potenziell genutzt werden kann.
Dieser Report ist einer der ersten, der einen zuverlässigen Einblick in eine große Stichprobe von Befragten mit (sowjet-)russischem Hintergrund im Vergleich zur kanadischen Gesamtbevölkerung bietet. Wir haben mehr als 500 dieser Befragten zusammen mit mehr als 1.800 Personen aus der übrigen kanadischen Bevölkerung befragt. Zusätzlich haben wir für einen signifikanten Anteil aller Befragten Daten von zwei Haushaltsmitgliedern erhoben: einem erwachsenen Kind und einem Elternteil. Auf diese Weise waren wir in der Lage, Unterschiede in der Familiendynamik zwischen Kanadier*innen mit und ohne (sowjet-)russischen Hintergrund zu erfassen. Bei den Befragten mit (sowjet-)russischem Hintergrund ist das erwachsene Kind in Kanada sozialisiert worden und repräsentiert somit die zweite Generation, während die Elterngeneration selbst aus (Sowjet-)Russland eingewandert ist.
Die wichtigsten Ergebnisse lauten wie folgt:
- Im Vergleich zur kanadischen Bevölkerung im Allgemeinen haben die Befragten mit (sowjet-)russischem Hintergrund, insbesondere die zweite Generation, weniger Vertrauen in die staatlichen Institutionen Kanadas und in das Prinzip der Demokratie, während sie den wirtschaftlichen Liberalismus stärker unterstützen.
- Die Nachkommen russischer Migrant*innen nehmen deutlich seltener an kanadischen Wahlen teil als ihre Eltern oder ihre Altersgenossen. Während ein Drittel der Elterngeneration in der Regel an russischen Wahlen teilnimmt, tut dies in der zweiten Generation kaum jemand.
- Personen mit (sowjet-)russischem Hintergrund neigen dazu, sozial konservativ zu sein. Sie glauben eher als andere Kanadier*innen, dass Männer die Hauptverdiener sein sollten und unterstützen traditionelle Geschlechternormen.
- Jüngere Menschen mit (sowjet-)russischem Hintergrund sind weniger politisch und gesellschaftlich aktiv als ihre Altersgenossen: mit der Ausnahme von Kommentaren zur Politik in den sozialen Medien.
- Während eine deutliche Mehrheit der Kanadier*innen der Meinung ist, dass Russland die alleinige Verantwortung für den Krieg in der Ukraine trägt, sind zwei Drittel der Personen mit (sowjet-)russischem Hintergrund anderer Meinung. Insbesondere ältere Befragte unterstützen die Position des Kremls, dass der Krieg gegen die Ukraine eine Reaktion auf die Aggression des Westens sei.
- Personen mit (sowjet-)russischem Hintergrund haben ein eher distanziertes Verhältnis zur (sowjet-)russischen Geschichte und reagieren nicht sehr defensiv, wenn diese kritisiert wird. Dies deutet darauf hin, dass das Potenzial des Kremls, durch historische Narrative patriotische Gefühle zu wecken, begrenzt sein könnte.
- Im Vergleich zu anderen Gruppen mit Migrationshintergrund haben Personen aus (Sowjet-)Russland relativ wenige Kontakte zu Freund*innen und Verwandten in Russland. Auch Reisen nach Russland sind selten.
- In Familien mit (sowjet-)russischem Hintergrund wird häufiger über Politik diskutiert als in anderen kanadischen Familien, wobei die Väter die dominierenden Figuren in diesen Diskussionen sind. Darüber hinaus sind für die jüngere Generation in diesen Familien die Eltern und die sozialen Medien die wichtigsten Quellen für historisches Wissen, während andere Kanadier*innen die Bedeutung des Geschichtsunterrichts in der Schule betonen.
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Das Projekt MoveMeRU wird vom Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms “Horizont Europa” der Europäischen Union unter der Vertragsnummer 101042339 gefördert. Es startete zum 01.09.2022.