Die Rolle der russischen Regionen in der Kriegswirtschaft
Russlands Rüstungsunternehmen haben sich zu einem entscheidenden Faktor in der Kriegswirtschaft des Landes entwickelt. Russlands partieller Dezentralisierung zum Trotz bedeutet dies jedoch strenge Kontrolle aus Moskau – in Form von finanziellen Anreizen und Zwang.
Nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine übertrug die russische Regierung bestimmte Verantwortungsbereiche an die regionalen Gouverneure. Außerhalb der politischen Sphäre, in der Moskau weiterhin eine strenge Kontrolle über die Regionen ausübte, begann der Kreml, ein gewisses Maß an Dezentralisierung zuzulassen. Gleichzeitig wurde es zum strategischen Ziel erklärt, den Krieg in die nationale Volkswirtschaft zu integrieren, und es gab die Vorgabe, eine ununterbrochene Versorgung der Front mit Waffen sicherzustellen. Dies führte zum Aufstieg einer Reihe von rüstungsorientierten Regionen. Der Krieg hat diesen Regionen eine Sonderstellung verschafft und ihnen ein starkes Wirtschaftswachstum gesichert.
Insgesamt behält Moskau aber trotzdem die Kontrolle über den Rüstungssektor in diesen Regionen, die dem Zentrum vollständig untergeordnet sind. Eine teilweise Dezentralisierung wurde also mit einer verstärkten selektiven Zentralisierung im Hinblick auf rüstungsorientierte Regionen kombiniert.
Militarisierung der nationalen Wirtschaft
Russlands vollumfänglicher Krieg gegen die Ukraine dauert nun schon mehr als zweieinhalb Jahre. Was als zeitlich begrenzte „militärische Spezialoperation“ begann, hat sich zu einem wesentlichen Faktor des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens in Russland entwickelt. Präsident Wladimir Putin hat erklärt, dass die Integration des militärisch-industriellen Komplexes in die nationale Volkswirtschaft eine der Schlüsselaufgaben des Krieges darstelle. Kremlsprecher Dmitri Peskow zufolge solle das Verteidigungsministerium „offen für Innovationen sein, für die Einführung sämtlicher fortschrittlicher Ideen und dafür, die Bedingungen wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen“. Putin betont: „Jeder Rubel in der Ökonomie der Streitkräfte muss effizient genutzt werden, und alle bereitgestellten Mittel sollten sich in die Wirtschaft als Ganze einfügen.“ Gleichzeitig sprach der stellvertretende Vorsitzende der russischen Präsidialverwaltung Maxim Oreschkin davon, dass es „keine erfolgreiche Wirtschaft ohne eine erfolgreiche Armee“ geben könne.
Russlands militärisch-industriellen Komplex wiederherzustellen, hat massive Staatsausgaben erfordert. Im Jahr 2024 wird das Land zum ersten Mal in seiner modernen Geschichte das Äquivalent von 6 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für das Militär aufwenden. Die Verteidigungsausgaben haben die Sozialausgaben überholt, was einen beträchtlichen Wandel darstellt, genossen doch letztere bisher höchste Priorität, da sie dem Regime ermöglichten, innerhalb größerer gesellschaftlicher Gruppen seine Legitimität zu sichern. Die Produktion militärischer Ausrüstung wirkt als Motor der industriellen Expansion, und unmittelbar mit dem Krieg in Verbindung stehende Industriezweige wie Transport, Computertechnik und Elektronik haben ein spektakuläres Wachstum erlebt.
Der Aufstieg rüstungsorientierter Regionen
Die Militarisierung der russischen Wirtschaft hat sichtbare territoriale Folgen, da die Rüstungsindustrie sich tendenziell in bestimmten Regionen konzentriert, Mustern folgend, die noch aus der Sowjetzeit stammen. Bei den rüstungsorientierten Regionen der Gegenwart handelt es sich um alte industrielle Kerngebiete, in denen die Rüstungsindustrie schon länger eine wichtige Rolle für die regionale Wirtschaft spielt.
Der Krieg und die daraus für Russland entstandene Notwendigkeit, angesichts von Sanktionen Ersatz für seine ausländischen Importe zu finden, hat diesen Regionen eine Sonderstellung verschafft und ihnen ein reges Wirtschaftswachstum beschert. Dieses Wachstum fing im Herbst 2022 an und machte sich 2023 stärker bemerkbar. Zu den fraglichen Gebieten gehören mehrere Regionen in den Föderationskreisen Zentralrussland, Wolga und Ural.
Genaue Schätzungen, welchen Beitrag die Rüstungsindustrie zum Wachstum des verarbeitenden Gewerbes leistet, sind praktisch unmöglich, da die Rüstungsunternehmen neben militärischen Produkten auch zivile Güter herstellen. Allerdings ist es die Rüstungsindustrie, die den maßgeblichen Antrieb für das Wachstum der Nachfrage nach Metallprodukten, Computern, Elektronik, optischen Geräten und Fahrzeugen liefert – alles Sektoren, die in den vergangenen Jahren einen beträchtlichen Zuwachs erlebt haben.
Die Verwaltung rüstungsorientierter Regionen
Nach Kriegsbeginn bestand der allgemeine Trend in den Beziehungen zwischen Zentrum und Regionen darin, regionalen Gouverneuren neue Verantwortungsbereiche zu übertragen und sie persönlich dafür verantwortlich zu machen, die politische und soziale Stabilität in ihren Regionen zu bewahren. Ziel dieser teilweisen Dezentralisierung war es, Putin von der Verantwortung für politische Fehlschläge zu entlasten und so seine Popularität zu sichern. Im Hinblick auf die rüstungsorientierten Regionen gestaltete sich die Situation jedoch komplizierter. Von Beginn des Krieges an managte Moskau Rüstungsunternehmen nach einem speziellen Schema.
Die Entscheidung des Kremls, Rüstungsunternehmen dazu zu zwingen, nicht nur ununterbrochen weiter zu produzieren, sondern ihre Produktionsmengen auch noch konstant zu steigern, machte es erforderlich, besondere Bedingungen für die Mitarbeiter*innen dieser Firmen zu schaffen. Die Angestellten russischer Rüstungsunternehmen erhielten im Herbst 2022 das doppelte Gehalt und wurden von der Teilmobilisierung im Land ausgenommen. Darüber hinaus haben Arbeitgeber*innen aus der Rüstungsindustrie versucht, durch die Zurückzahlung von Hypotheken, Urlaube am Schwarzen Meer und sogar die Übernahme der Kosten für psychologische Behandlungen neue Mitarbeiter*innen anzuwerben. Einige Firmen initiierten eine „Bring einen Freund“-Kampagne mit dem Versprechen von 10.000 Rubel (ca. 90 Euro) für jeden neuen Mitarbeiter, den man ins Unternehmen holt.
Mit diesen besonderen Beschäftigungsbedingungen ging aber auch eine besondere Kontrolle aus Moskau einher. Um die Direktor*innen der Rüstungsunternehmen dazu zu bringen, härter zu arbeiten und disziplinierter zu sein, schreckte die russische Führung nicht vor direkten, der Stalinzeit entliehenen Drohungen zurück. Während eines Treffens der Militärisch-Industriellen Kommission im März 2023 las der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats Dmitrij Medwedew ein Telegramm vor, das Stalin 1941 verschickt hatte: „Nun bitte und hoffe ich, dass Sie ihre Pflicht gegenüber dem Mutterland erfüllen werden. In wenigen Tagen werden Sie Ihre Pflicht gegenüber dem Mutterland verletzen und ich werde anfangen, Sie zu zerschmettern wie Kriminelle, die die Ehre und das Interesse des Mutterlandes missachtet haben. Es ist nicht zu tolerieren, dass unsere Truppen an der Front unter einem Mangel an Panzern leiden, während Sie im weit entfernten Hinterland faulenzen und Müßiggang betreiben.“ Medwedew bat alle, die bei dem Treffen anwesend waren, sich die Worte des sowjetischen Führers einzuprägen.
Medwedew unternimmt unablässig Inspektionsbesuche, um die Arbeit der Rüstungsunternehmen in den Regionen zu überwachen. So berief er zum Beispiel im März 2024 ein weiteres Treffen der Militärisch-Industriellen Kommission ein, um im Rahmen seines Besuchs einer Schießpulverfabrik in der Region Tambow die Produktion besonders stark nachgefragter Waffen zu evaluieren. Im Juni 2024 sagte Industrie- und Handelsminister Anton Alichanow, dass die Arbeit von Rüstungsfirmen überall in Russland den Prinzipien eines strengen Projektmanagements entsprechen müsse und es Sanktionen – bis hin zum Eigentümerwechsel – für diejenigen geben werde, die gegen diese Regeln verstoßen.
Der Krieg hat eine partielle Dezentralisierung Russlands angestoßen. Im Hinblick auf bestimmte Regionen, die für das Kriegskalkül des Kremls von zentraler Bedeutung sind, so zeigen diese Beispiele, wurde dies jedoch mit einer verstärkten selektiven Zentralisierung verbunden.
Irina Busygina ist Politikwissenschaftlerin und seit August 2024 wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS, wo sie an dem Projekt „Die Auswirkungen des Krieges auf Russlands Zentrum-Regionen-Beziehungen und territoriale Stabilität“ arbeitet.