ZOiS Spotlight 16/2022

Literatur im Krieg

Von Nina Frieß 27.04.2022
Die ukrainische Schriftstellerin Yevgenia Belorusets ist bei einer Solidaritätsveranstaltung des Internationalen Literaturfestivals Berlin zugeschaltet. IMAGO / Future Image

„Die Leitartikel waren entsetzlich. Sie waren verlogen, blutrünstig und arrogant. Die Welt außerhalb Deutschlands erschien in ihnen degeneriert, heimtückisch, dumm und zu nichts anderem nütze, als von Deutschland übernommen zu werden. Die beiden Zeitungen waren keine Lokalblätter, sie hatten früher einmal einen guten Namen gehabt. Nicht nur ihr Inhalt, auch ihr Stil war unglaublich.“[1] Zwei Wochen nach Kriegsbeginn stolpere ich auf Facebook über dieses Zitat aus Erich Maria Remarques Roman „Die Nacht von Lissabon“. Eine Freundin aus Russland hat es gepostet. Sie kommentiert das nicht weiter, schreibt nur, dass sie sich dank der Empfehlung einer russischen YouTuberin an den Text erinnert habe. Offenbar erscheint ihr dieses Zitat, das die Beobachtungen eines deutschen Emigranten im Jahr 1939 wiedergibt, angemessen, um ihre eigene Situation im Russland des Jahres 2022 zu beschreiben. Mit ihrer Rückbesinnung auf Remarque, den großen Pazifisten der deutschen Literatur, scheint sie in Russland nicht allein zu sein: Gleich vier Titel Remarques finden sich in unterschiedlichen Ausgaben auf der „Top-100 der Belletristik“-Liste von Ozon.ru, dem größten russischen Online-Händler.

Dass viele Leser*innen in Russland nun auf (Anti-)Kriegsliteratur des 20. Jahrhunderts zurückgreifen, um, wie es eine andere Freundin ausdrückt, „all dies zu überstehen“, spricht für die fortdauernde Relevanz dieser Texte. Das beklemmende Déjà-vu-Erlebnis, das einen bei der Lektüre Remarques überfällt, zeigt allerdings auch, dass der dieser Literatur immanente Imperativ „Nie wieder Krieg!“ nicht verfangen hat. Und so führt das Land, in dem Remarque populärer ist als in seinem Heimatland, und das selbst eine lange Tradition an bis heute gelesener Anti-Kriegsliteratur aufweist, seit Ende Februar einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die gesamte Ukraine.

Autor*innen, die keine „Literatur“ mehr schreiben

Ich schreibe hier „gegen die gesamte Ukraine“, weil allzu oft in Vergessenheit gerät, dass im Osten der Ukraine seit 2014 ein Krieg schwelt, der bis Anfang 2022 Tausende Menschen das Leben gekostet und etwa 2,5 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben hat. Literarisch dokumentiert finden wir diesen Krieg beispielsweise in Serhij Zhadans Roman „Internat“ (2017) oder in Andrej Kurkows Roman „Graue Bienen“ (2018). Beide Texte beschreiben Odysseen ihrer Protagonisten durch das Niemandsland zwischen den Fronten im Donbass. Beide Romane lassen keinen Zweifel an der Brutalität und Sinnlosigkeit des Krieges aufkommen, der bei Zhadan und Kurkow keine Helden kennt. Denn auch wenn die Protagonisten der Romane, die als klassische Anti-Helden angelegt sind, über sich selbst hinauswachsen, stehen sie am Ende der Romane wieder am Ausgangspunkt ihrer Reise: vor einer ungewissen Zukunft.

Zhadan und Kurkow gehörten bereits vor dem Kriegsausbruch im Donbass zu den bekanntesten literarischen Stimmen ihres Landes. Angesichts des Krieges schreiben sie nun „keine Literatur mehr,“ wie es Kurkow in einem Interview ausdrückt. Beide halten sich weiterhin in der Ukraine auf und nutzen ihre internationale Bekanntheit, um in Gastbeiträgen und Interviews auf das Leiden der ukrainischen Bevölkerung und die russischen Kriegsverbrechen aufmerksam zu machen und die Welt zum Handeln aufzufordern.

Auch Yevgenia Belorusets gehörte zu den Autor*innen, die lange in der Ukraine ausharrten. In ihrem „Tagebuch aus Kiew“ berichtete sie bis zu ihrer Ausreise Anfang April für den SPIEGEL über ihren „Alltag“ im Krieg. In detailreichen Texten beschrieb sie die Angst und Verzweiflung, die Wut, den Durchhaltewillen und das Engagement ihrer Landsleute. Neben eigenen Erlebnissen ließ sie Erzählungen von Freund*innen und Bekannten in ihr öffentliches Tagebuch einfließen, so dass in Zeiten der vermeintlichen Sprachlosigkeit ein vielstimmiges Zeitzeugnis entstand. Nach der Lektüre von Belorusets‘ Tagebuch kann es keine Aussagen á la „wir haben von nichts gewusst“ mehr geben, so dass dieses Dokument auch immer eine Mahnung an seine Lesenden ist.

Russische Schriftsteller*innen für und gegen den Krieg

Das Ukrainische Buchinstitut, PEN Ukraine und weitere Literaturinstitutionen haben angesichts des russischen Angriffs zu einem weltweiten „totalen Boykott“ russischer Kulturprodukte im Allgemeinen und russischer Bücher im Speziellen aufgerufen. Diese Bücher, so heißt es in einem offenen Brief vom 1. März, enthielten in vielen Fällen russische Propaganda, was sie „zu Waffen und einem Prätext für den Krieg“ machten. Tatsächlich gibt es in Russland Autor*innen, die die sogenannte „militärische Spezialoperation“ Russlands in der Ukraine befürworten. Über 500 Schriftsteller*innen haben nach Angaben der Organisatoren einen in der Literaturnaja Gazeta veröffentlichten Unterstützerbrief unterzeichnet, der sich in seinem pathetisch-hysterischen Tonfall ganz am offiziellen Narrativ des Kremls orientiert. Namhafte russische Schriftsteller*innen sucht man unter den Unterzeichnenden allerdings nahezu vergeblich. Nicht einmal Sachar Prilepin, einst international gefeiertes Enfant terrible der russischen Literatur, inzwischen eher durch seinen Einsatz als Vize-Bataillonskommandeur auf Seiten der prorussischen Separatisten im Donbass bekannt, hat ihn unterzeichnet. Das liegt allerdings wohl eher an Prilepins ausgeprägtem Individualismus, denn aus seinen großrussischen Fantasien macht der Autor, der zu den von der EU sanktionierten russischen Persönlichkeiten gehört, keinen Hehl. Prilepin reagierte gewohnt ironisch auf die Sanktionen, die er als „Auszeichnung für seine Verdienste“ bezeichnete. Auch Puschkin sei niemals im Ausland gewesen und er „lebe auch so im schönsten Land Europas“, ließ er das russische Medienunternehmen RBK wissen. Schriftsteller*innen sind Chronist*innen ihrer Zeit, als moralische Leitfiguren taugen sie, wie das Beispiel Prilepin zeigt, indes nicht immer.

Ein pauschaler Boykott russischer Autor*innen ist jedoch nicht angebracht: Viele international bekannte russische Autor*innen verurteilen den Krieg gegen die Ukraine scharf und warnen vor seinen katastrophalen Folgen, auch für die russische Kultur. Besonders große Resonanz erfuhr ein Interview Boris Akunins, das dieser Anfang März dem populären russischen YouTuber Jurij Dud gab, der von russischen Behörden inzwischen zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde. Über eine Stunde spricht Akunin, der zu den meistgelesenen Schriftsteller*innen Russlands zählt und international vor allem für seine Kriminalromane bekannt ist, mit Dud über russische Geschichte und die aktuellen Ereignisse. Akunin, ein brillanter Intellektueller und Kosmopolit, zieht dabei ganz andere Schlüsse als der russische Präsident Wladimir Putin, dessen Versuche, die russische Geschichte in ein durchgehendes Heldennarrativ um- und fortzuschreiben, ihren traurigen Höhepunkt im Überfall der Ukraine fanden. Akunin indes ist überzeugt, dass Imperien allein ihren Herrschern ein gutes Leben ermöglichten, nicht aber ihren Bürger*innen. Perspektivisch hofft er auf einen demokratischen Wandel Russlands, der ein normales Verhältnis zur Ukraine ermögliche, auch wenn dies lange Zeit dauern werde. Er sei sich dennoch sicher, so beendet Akunin das Interview, dass „Russland stärker und langlebiger ist als Putin. Russland wird überleben und wieder normal werden“. Das Video ist mit bislang über 23 Millionen Aufrufen eine der meistgeklickten Produktionen Duds.

Wie alle vorherigen Kriege wird auch der russische Krieg gegen die Ukraine neue Literatur hervorbringen. Dass die Menschheit daraus lernen wird, darf mit Blick auf den Anfang dieses Textes getrost bezweifelt werden.


[1] Erich Maria Remarque: Die Nacht von Lissabon, Köln 2021 [1962], 36-37.


Nina Frieß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS.