Psychische Gesundheit und Migration: Herausforderungen für ukrainische Akademiker*innen in Kriegszeiten
Studien zeigen, dass Burn-out und Angstzustände unter ukrainischem Hochschulpersonal infolge des Krieges weit verbreitet sind. Viele denken gar über einen Berufswechsel nach. Dabei ist es für die Zukunft des Landes unabdingbar, den Bildungs- und Forschungssektor aufrechtzuerhalten. Wie kann dies gelingen?
Stellen Sie sich vor, Sie halten einen Vortrag, während Luftangriffsirenen heulen, oder benoten Arbeiten während eines Stromausfalls bei Kerzenlicht. Dies ist die harte Realität für viele ukrainische Akademiker*innen inmitten der Kriegswirren. Das akademische Personal an den Universitäten der Ukraine befindet sich an einem Scheideweg persönlicher und beruflicher Umwälzungen, während es mit Stromausfällen und instabilem Internet zurechtkommen muss. Doch trotz dieser Herausforderungen unterrichten, betreuen und forschen sie weiter und beweisen im Angesicht des Krieges eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit.
Die Migration hat das Leben und die Arbeit dieser Menschen noch komplexer gemacht. Laut einem UNESCO-Bericht sind 12 Prozent des akademischen Personals in der Ukraine ausgewandert oder wurden innerhalb des Landes vertrieben. Etwa 30 Prozent arbeiten jetzt aus der Ferne. Diese Fernarbeit bietet ihnen zwar die Möglichkeit, eine gewisse Kontinuität aufrechtzuerhalten, verstärkt jedoch oft das Gefühl der Isolation und Abgeschiedenheit, was zusätzlich zum fortdauernden Krieg psychisch sehr belastend ist. Diese sich überschneidenden Belastungen durch Krieg und Migration weisen auf einen oft übersehenen Aspekt der Resilienz in Kriegszeiten hin: die psychische Gesundheit des akademischen Personals als Eckpfeiler für den Erhalt des Hochschul- und Wissenschaftssektors.
Die psychischen Folgen des Krieges für ukrainische Akademiker*innen
Aktuelle landesweite Studien während der groß angelegten Invasion der Ukraine zeigen eine ernüchternde Realität auf: Der andauernde Krieg hat die psychische Gesundheit des akademischen Personals stark beeinträchtigt. Zwangsmigration, instabile Arbeitsbedingungen und der unerbittliche Druck, die akademischen Standards inmitten des Krieges aufrechtzuerhalten, haben zu einem alarmierenden Ausmaß an Burn-out und Angstzuständen geführt.
Burn-out, ein Zustand, der durch emotionale Erschöpfung, Depersonalisation und verminderter Leistungsfähigkeit definiert ist, ist zunehmend verbreitet. Die durch den Krieg bedingten anhaltenden Stressfaktoren haben seine Auswirkungen noch verstärkt, insbesondere auf vertriebene Akademiker*innen. Eine nationale Studie ergab, dass emotionale Erschöpfung – ein Hauptauslöser von Burn-out – 64 Prozent der Migrant*innen im Ausland, 55 Prozent der Binnenvertriebenen und 45 Prozent der Nicht-Migrant*innen betraf. Die starken Unterschiede unterstreichen die vielfältigen Herausforderungen, mit denen Vertriebene konfrontiert sind. Auch die Depersonalisation, die durch Gefühle der Entfremdung und Zynismus gekennzeichnet ist, hat stark zugenommen, insbesondere bei denjenigen, die durch den Krieg entwurzelt wurden.
Angst ist ein weiteres drängendes Problem, das bei 44,3 Prozent des akademischen Personals mittelschwer bis schwer ausgeprägt ist – Zahlen, die weit über denen liegen, die normalerweise in Friedenszeiten zu beobachten sind. Interessanterweise hat der Krieg die traditionellen Geschlechtermuster bei der Verbreitung von Angstzuständen verschoben. Während Frauen in Friedenszeiten in der Regel über ein höheres Maß an Angst berichten, leiden männliche Akademiker während des Krieges unter schwereren Angstzuständen. Diese Umkehrung wird auf gesellschaftlichen Druck zurückgeführt, einschließlich der Erwartung einer Einberufung und der psychologischen Belastung, nicht direkt zu den Verteidigungsbemühungen beitragen zu können.
Die Migration hat diese psychischen Probleme noch verschärft. Sowohl Binnenvertriebene als auch Migrant*innen im Ausland berichten vermehrt von schweren Angstzuständen – 26,4 Prozent bzw. 25,8 Prozent im Vergleich zu 15,5 Prozent derjenigen, die an ihrem ursprünglichen Wohnort geblieben sind. Migration bringt Unsicherheiten, berufliche Brüche und soziale Isolation mit sich, verstärkt den Stress und untergräbt die Widerstandsfähigkeit.
Erosion des intellektuellen Potenzials der Universitäten
Die durch Migration und psychische Krisen während des Krieges verschärften Herausforderungen für ukrainische Hochschullehrende stellen eine erhebliche Bedrohung für den Hochschul- und Wissenschaftssektor des Landes dar. Das Land läuft Gefahr, einen erheblichen Teil seiner intellektuellen Kapazität zu verlieren, eine entscheidende Ressource für Erholung und Wachstum.
Eines der unmittelbarsten Risiken ist die Abwanderung von Fachkräften. Die erzwungene Migration von akademischem Personal – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes – erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass hochqualifizierte Fachkräfte die akademische Welt oder das Land dauerhaft verlassen. Eine aktuelle, noch nicht erschienene Studie ergab, dass 14,4 Prozent der Migrant*innen im Ausland häufig darüber nachdenken, den akademischen Bereich zu verlassen, was den potenziellen Verlust ihres Fachwissens bedeutet.
Die institutionelle Instabilität verschärft diese Herausforderungen zusätzlich. Da fast 46 Prozent des akademischen Personals einen Karrierewechsel in Betracht ziehen, haben Universitäten Schwierigkeiten, ihre Kontinuität aufrechtzuerhalten, notwendige Reformen umzusetzen und ein verlässliches akademisches Umfeld zu fördern. Diese Instabilität stört den Bildungsprozess und schwächt die Fähigkeit der Institutionen, effektiv auf Herausforderungen in Kriegszeiten zu reagieren.
Migration in Verbindung mit einem Mangel an Ressourcen und institutioneller Unterstützung erschwert es den Akademiker*innen, gute Forschungsarbeit zu leisten. Diese Stagnation der intellektuellen Leistung behindert auch die Entwicklung innovativer Lösungen, mit denen die sozioökonomischen Herausforderungen der Ukraine während und nach dem Konflikt bewältigt werden können.
Schließlich unterstreicht die psychische Krise des akademischen Personals die Fragilität ukrainischer Arbeitskräfte. Das hat weitreichende Folgen für die nationale Widerstandsfähigkeit, insbesondere wenn es um zukünftige Führungskräfte und Innovatoren geht.
Die akademische Zukunft der Ukraine
Ohne gezielte Unterstützung und angemessene Ressourcen besteht die Gefahr, dass die psychische Krise unter ukrainischen Akademiker*innen sowohl Einzelpersonen als auch Institutionen tiefgreifend und dauerhaft beeinträchtigt. Universitäten sollten sofortige und nachhaltige Maßnahmen ergreifen, darunter zugängliche Unterstützung im Bereich der psychischen Gesundheit, die auf die besonderen Bedürfnisse von Akademiker*innen zugeschnitten ist, die migriert sind und aus der Ferne arbeiten. Programme zur Unterstützung der psychischen Gesundheit für interne und externe Migrant*innen können dazu beitragen, ein Gefühl der Stabilität und Zugehörigkeit wiederherzustellen. Gleichzeitig können flexible Richtlinien, die eine selbstgesteuerte Genesung und anpassungsfähige Arbeitsbedingungen ermöglichen, Lehrkräfte in die Lage versetzen, mit ihren außergewöhnlichen Umständen zurechtzukommen.
Die Berücksichtigung der psychischen Gesundheit ist nicht nur ein Akt der Unterstützung, sondern auch eine Investition in die Zukunft der Ukraine. Indem die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden derjenigen, die für die Bildung künftiger Generationen und die Förderung von Innovationen verantwortlich sind, in den Vordergrund gestellt werden, kann die Ukraine ihr Hochschulsystem als Eckpfeiler der nationalen Erneuerung sicherstellen.
Dr. Natalia Tsybuliak ist Fellow im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Ukraine Research Network@ZOiS, wo sie an dem Projekt „Psychische Gesundheit des ukrainischen Lehrpersonals während des Krieges“ arbeitet.